Bleiernes Schweigen
benutze ich Bubi als eine Art Safe. Es gibt ein System, nach dem wir uns Sachen zukommen lassen, ohne dass es jemand merkt. Er legt sie beiseite, und wenn ich sie brauche, frage ich ihn. Auch dafür gibt es ein System.«
Er deutet mit dem Kinn auf den Stick.
»Das ist eine Kopie von Elenas Aufzeichnungen über unseren sizilianischen Job. So hab ich’s genannt, unser sizilianischer Job . Frag mich nicht nach dem Original. Die Abmachung sieht vor, dass er das Zeug aufhebt, mir aber nicht verrät, wie und wo. Es könnte in einer Cannelloniform stecken oder sonstwo.«
Ohne den Blick von meinem Vater abzuwenden lege ich den Stick in die Schachtel zurück.
»Warum?«
Er breitet die Arme aus.
»Weil es einfacher ist, als dir alles zu erzählen? Weil ich, wenn ich dir alles erzähle, möchte, dass du weißt, worüber wir eigentlich reden? Weil es Teil meines und auch deines Lebens ist und wir früher oder später damit fertig werden müssen? Es gibt zahlreiche Gründe und noch mehr Fragen. Es ist alles da drauf. Oder fast alles.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das passiert mir nicht oft, und auch befangen bin ich nur selten, aber hier, vor dieser elenden winzigen Schachtel im verwaisten Gastraum, vor meinem Vater, der so ernst wirkt und zugleich eine teuflische Lust daran zu haben scheint, mich zu verarschen, gibt es keine Wortkombination, die meine Gefühle zum Ausdruck bringen könnte. Ein Gedanke wäre vielleicht besser. Oder ein Bild, die Erinnerung an ein Lächeln oder an den Geruch von Desinfektionsmittel, Medizin und Hoffnung, der letzte Lebensfunke, der vor dem Koma, das dem Unfall folgte, zu mir durchgedrungen ist.
»Danke«, murmele ich schließlich. »Wir reden weiter, wenn ich’s gelesen habe«, sage ich vor dem Restaurant, Bubis ansteckendes Lachen noch im Ohr. Mit seinem sturen Einzelkämpfer-Gesicht steht mein Vater am Taxi: Ich bin nicht behindert, ich kann das allein.
Er nickt. Das Taxi fährt davon und in der Straße wird es still.
Wie ferngesteuert gehe ich zum Auto, die Hände in den Taschen vergraben, und streiche mit dem Finger über das Päckchen. Die Worte noch taub und abwesend. Unfähig, die Neugier, die Spannung, die Angst, die Trauer auszudrücken.
Ich biege um die Straßenecke, ohne die geringste Ahnung, was mich dahinter erwartet.
Ich wache auf mit wummerndem Schädel, einem dumpfen Schmerz im Nacken, zerrüttetem Magen und brennender Kehle. Ich presse die Lider zusammen, mein Kopf dreht sich, die Übelkeit nimmt mir den Atem. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig ins Bad. Auf Knien hocke ich da, mit geschlossenen Augen und heftig pochendem Herzen.
Alles ist gut.
Ich stehe auf und ziehe mich aus, ohne in den Spiegel zu sehen. Ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen. Glaube ich.
Alles ist gut.
Ich drehe die Dusche auf, das Wasser ist fast kochend heiß, genau das, was ich brauche.
Alles ist gut.
Ich weiß nicht, wie lange ich unter dem Wasserstrahl stehe. Doch als ich herauskomme, sieht die Welt plötzlich anders aus. Klar ist alles gut. So gut wie nie. Und vom Zahnpastageschmack wird mir wieder schlecht. Doch diesmal nur kurz.
Ich gehe durch die Wohnung und ziehe die Rollläden hoch. Überrascht stelle ich fest, dass die Sonne scheint, dass es zehn Uhr morgens ist und ich nicht den blassesten Schimmer habe, welcher Tag heute ist. In der Küche trinke ich aus einer Orangensafttüte. Nach der knappen Hälfte stelle ich sie in den Kühlschrank zurück. Mein Atem geht schwer, als wäre ich vor einem gefährlichen Raubtier geflohen. Und vielleicht stimmt das ja auch.
Im Schlafzimmer starre ich einen Moment lang auf das Bett, auf die unberührten Decken und das Kissen, auf dem ich seit dem Abend meines Geburtstages nicht mehr gelegen habe. Der letzte Tag eines anderen Lebens.
Ich schlüpfe in einen Trainingsanzug, den ich blindlings aus dem Schrank ziehe, und kehre ins Wohnzimmer zurück.
Das Morgenlicht macht es zu einem besseren Ort. Der offene Laptop ist an die Steckdose angeschlossen. Zwei fast leere Coladosen, ein Saftkarton, ein paar Stückchen Schokolade in Stanniol.
Und Papier. Überall. Notizen, Grafiken, Linien, ausgestrichene Namen, zwei mit Tesa zusammengeklebte A4-Blätter, auf denen ich versucht habe, ein Beziehungsnetz zu konstruieren, das auf einmal absurd und gespenstisch wirkt.
Ein Notizblock voller Anmerkungen, Seitenzahlen, nachzuprüfender Details, Dokumente, die ich lesen muss.
Die Vergangenheit reicht nicht. Ganz rasch und lautlos ist die
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