Bleiernes Schweigen
aussehen.«
Er beginnt zu reden und ich höre nicht mehr zu. Ich tue nur so und schreibe ab und zu etwas hin. Dann ist der Moment gekommen, um von der Vergangenheit zu reden.
»Erzählen Sie mir, wie Sie zu diesem Posten gekommen sind?«
»Der Präsident der Region hat mir …«
Ich falle ihm ins Wort.
»Nein, verzeihen Sie. Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Erzählen Sie mir, wie Giulio Occhipinti hierhergekommen ist. Sie sagten, im Zentrum stehe der Mensch, nicht das Unternehmen. Ich möchte wissen, was Sie berufen hat, ich meine Sie als Mensch.«
Er entspannt sich.
Er erzählt mir von Comunione e Liberazione, wie er dorthin gekommen ist, von seinem Studium. Von der Verantwortung, die er gespürt hat, als er anfing, wichtige Aufgaben bei CL zu übernehmen, von der harten Arbeit beim Unternehmerverband Compagnia delle Opere in Sizilien und dann in der Lombardei. Von der Berufung durch den Präsidenten der Region. Von seinem Einsatz gegen die organisierte Kriminalität. Eine Art Hagiografie, wie sie jeder von sich entwerfen würde.
Ich höre zu, schreibe mit, nicke bei den wichtigsten Stellen. Dann lächele ich.
»Sie sind also Sizilianer.«
»Das ist kein Verbrechen.«
»Nein, ganz das Gegenteil. Während Ihrer Schilderung bin ich hier und da ein bisschen neugierig geworden. Darf ich …«
»Bitte, schießen sie los.«
Ich tue so, als müsste ich meine Gedanken ordnen.
»Wie lange haben Sie beim CERISDI gearbeitet?«
Ich halte den Atem an. Blättere durch meine Notizen. Occhipinti antwortet nicht. Schließlich sehe ich auf, vermeintlich überrascht über sein Schweigen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
Die Selbstsicherheit, mit der er unsere Unterhaltung geführt hat, scheint mit einem Mal verpufft zu sein. Er greift in eine Silberschale mit Konfekt, die auf einer Seite des Schreibtisches steht, nimmt sich ein Zitronenbonbon und bietet mir eins an. Ich packe ein grünes aus. Statt nach Minze schmeckt es nach nichts.
Dann bricht der Hausherr das Schweigen.
»Eine seltsame Frage.«
Ich klappe das Notizbuch zu und lege den Stift nieder.
»Wenn Sie nicht antworten möchten, kein Problem.«
Mit verschmitzter Miene schüttelt er den Kopf und lutscht auf seinem Bonbon herum.
»Aber wieso denn das? Das CERISDI war damals ein Aus- und Fortbildungszentrum für Staatsbedienstete. Eine hervorragende Einrichtung, derer man sich nicht zu schämen braucht. Ganz im Gegenteil. Ich war Anfang der Neunziger dort. Von ’91 bis ’93, wenn ich mich nicht irre. Es ist schon eine Weile her.«
»Und wofür waren Sie zuständig?«
Es kostet ihn einige Mühe, ruhig zu bleiben.
»Ich war jung. Ich war mitverantwortlich für die Organisation der Kurse.«
»Zusammen mit dem damaligen Verantwortlichen?«
»Ganz genau.«
Ich schweige. Occhipinti scheint unsicher, ob er mich loswerden oder dahinterkommen soll, worauf ich hinauswill. Ich will ihn nicht zappeln lassen.
»Wissen Sie, was ich glaube?«
»Ich höre.«
»Dass dieses Zentrum nicht nur seine Kursteilnehmer zu Führungskräften ausgebildet hat, sondern auch seine Mitarbeiter.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Nun ja, viele, die dort waren, sind auf wichtigen Posten gelandet. In der Compagnia delle Opere wie in der Politik.«
Er fragt mich nicht, auf wen ich anspiele. Stattdessen zupft er am Bonbonpapier herum und mustert mich.
»Meisterschaft bringt Meisterschaft hervor.«
»Ja, für gewöhnlich ist das so. Seltsam nur, dass sämtliche ›Absolventen‹ in den gleichen Reihen zu finden sind.«
»Finden Sie?«
»Sie nicht?«
Er wirft das Papier in den Aschenbecher.
»Ehrlich gesagt, nein. Die Ideologien sind tot, das waren sie schon damals. Es ist doch normal, dass, wer sich im Sinne der – wie soll ich sagen, christlichen Nächstenliebe? – politisch oder sozial engagiert, in einer Mannschaft spielt.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht.«
Ich schweige. Öffne das Notizbuch. Tue so, als würde ich lesen. Ich habe nur noch eine Frage.
Die, wegen der ich hier bin.
»Erinnern Sie sich an Ignazio Solara?«
Eine ganze Weile sagt er nichts. Er rührt sich nicht einmal. Er starrt mich an, halb verblüfft, halb entsetzt. Dann angelt er sich noch ein Bonbon vom Teller. Er lutscht es nur, um das Papier zwischen den Fingern zu haben. Und um Zeit zu schinden.
»Und wer soll das sein?«
Ich lüge.
»Ich dachte, er hätte zu Ihrer Zeit beim CERISDI gearbeitet.«
Er zerreißt das Papier. Genau in der Mitte.
»Dann denken Sie falsch.«
Wieder
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