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Bleischwer

Bleischwer

Titel: Bleischwer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Wünsche
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gleichzeitig zutiefst
verletzt an: »Versprich es mir. Jetzt!«
    Jule
wich seinem bohrenden Blick aus. Was sollte sie auch sagen? Sie war eine
Verräterin, so oder so. Scham und Selbstekel vermischten sich in ihr zu einer
zähen Masse. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
    »Okay.
Keine Antwort ist auch eine!«
    Jörg
drehte sich auf den Hacken um und rauschte aus dem Zimmer. Wenige Minuten
später hörte sie die Haustür schlagen. Jule blieb mit schlechtem Gewissen, aber
auch ziemlich erleichtert zurück, dass er weg war.
    Irgendwann,
nachdem sie eine halbe Ewigkeit wie hypnotisiert in die zuckenden Flammen im
Kamin gestarrt hatte, raffte sie sich auf und schaltete den Fernseher an.
Rastlos switchte sie durch die Kanäle, bis sie bei einem der Privatsender
hängen blieb. Unterschichtenfernsehen. Na von wegen. Neugier, Schadenfreude und
Sensationsgier sind nicht allein den Armen vorbehalten. Jule schaute mäßig
interessiert die Klatsch-und Tratschsendung über Stars, Stories und News. Bis
ihr plötzlich der Atem stockte.
    »Wir
sind hier in der Wohnung einer Frau, die mehr Leid erlebt hat, als ein Mensch
in seinem Leben verkraften kann«, behauptete eine glatt gebügelte
schwarzhaarige Moderatorin mit blauen Klimperaugen und tiefem Ausschnitt. Mit
elegant übereinander geschlagenen Beinen saß sie auf einer schmuddeligen,
senffarbenen Eckcouch. An der speckigen Tapete hinter ihr hingen wahllos
verstreut alte Fotos. Ein mickriger Ficus Benjamini verstaubte in der Ecke. Das
Zimmer wirkte verwahrlost. »Ihr Mann, der Polizeibeamte Kurt Wächter, wurde
1987 im Einsatz von dem Mann getötet, der vor mehreren Tagen aus der JVA Köln
fliehen konnte und im Eifeldorf Steinbach von einem Unbekannten erschlagen
wurde.«
    Die
Kamera schwenkte auf eine verhärmte Fünfzigjährige mit grauem Kurzhaarschnitt,
hängender Wangenpartie und violetten Augenringen. Stocksteif saß sie neben der
Moderatorin. Ihre Knie stachen spitz ins Bild.
    »Wie
fühlen Sie sich nun, seitdem Stefan Winter, der brutale Mörder Ihres Mannes,
tot ist?«
    »Es ist
eine Erleichterung«, erklärte die Frau mit bitterer Miene. »Obwohl es mir
meinen Mann natürlich nicht zurückbringt. Trotzdem bin ich unendlich froh, dass
der Mörder zur Strecke gebracht wurde. Endlich hat er die Strafe bekommen, die
er verdient hat.«
    »Ihnen
reichte es nicht, dass er zu lebenslanger Haft verurteilt wurde?«
    »Sie
sehen ja selbst, wohin das geführt hat. Der Mörder konnte fliehen. Nein, ich
denke, Gerechtigkeit ist erst jetzt erreicht. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Vielleicht finde ich nun endlich Ruhe und Frieden.«
    »Ihre
drei Kinder waren noch klein, als Ihr Mann 1987 von dem Bankräuber erschossen
wurde. Heute sind sie erwachsen. Wie stehen sie zu den jüngsten Vorfällen?«,
fragte die Dunkelhaarige.
    »Die
Kinder waren damals fünf, drei und ein halbes Jahr alt. Nur meine älteste
Tochter hat noch Erinnerungen an ihren Vater. Sie lebt mit Mann und Familie in
der Eifel, nicht weit weg von dem Dorf, in das sich der Mörder flüchtete.
Martina war außer sich, als sie von Winters Ausbruch erfuhr. Wie kann das
Schwein einfach abhauen?, fragte sie mich am Telefon. Sie betete darum, dass
man ihn bald zur Strecke bringt. Am besten mit einem Schuss.« Die Frau lächelte
milde. Es sah gruselig aus. »Martinas Gebete sind erhört worden. Auch wenn man
Winter erschlagen und nicht erschossen hat.«
    »Frau
Wächter, ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie und Ihre Kinder jetzt Ihren Frieden
finden können.«
    »Ja,
das wäre schön. Es war alles so unfair. Wir waren eine wirklich glückliche
Familie. Kurt war die Liebe meines Lebens. Sie können sich gar nicht
vorstellen, wie es ist, dies alles auf einmal zu verlieren. Nicht nur Trauer hat
seither mein Leben bestimmt, sondern auch ohnmächtiger Hass auf den Mörder. Der
hat nach so langer Zeit nun endlich seine gerechte Strafe bekommen … «
    Jule
musste schlucken. Sie konnte die Sichtweise der Frau nachvollziehen. Mit einem
Schlag war vor 25 Jahren
ihr heiles Leben ausgelöscht worden. Boshaft und willkürlich, wie es schien.
Ehe, Familie, Liebe, Glück, Absicherung. Alles weg. Das hatte sie gezeichnet.
Unauslöschlich. Aber würde sie nun tatsächlich Frieden finden? Hatten sich ihr
Hass und ihre Verbitterung auf die Ungerechtigkeit des Schicksals nicht längst
selbstständig gemacht? Waren zum Lebensinhalt geworden? Ihr Äußeres sprach
Bände. Sie wirkte verfallen und verhärtet zugleich. Jule bezweifelte, dass sich
Frau Wächter

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