Bleischwer
Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist.«
Jana
platzierte ihren zierlichen Po anmutig auf der Armlehne eines monströsen
Ledersessels und verzog missbilligend die Lippen.
»Ich
verstehe nicht, was du an dem Typen findest«, antwortete sie leichthin, doch
ihre Augen flackerten unsicher. »Und wahrscheinlich steigerst du dich in diese
Geschichte nur rein. Was soll dem schon passiert sein? Bestimmt hat er sich in
besoffenem Kopf bloß gestoßen. Dieser Faßbinder säuft wie ein Loch.
Wahrscheinlich hat er inzwischen den halben Weinkeller von Mama und Papa leer
getrunken. Ich weiß nicht, wie du ihnen das erklären willst, wenn sie aus dem
Urlaub zurückkommen. Aber das ist ja, wie du so schön sagtest, nicht meine
Sache.«
Jule
unterbrach die kleine Schwester ungeduldig. »Hast du irgend jemandem von
Michael erzählt? Sebastian etwa oder doch der Polizei?«
»Nein.«
Die
Antwort kam ein bisschen zu schnell. Jule glaubte Jana nicht. Sie spürte es,
wenn jemand nicht ehrlich mit sich selbst oder anderen war. Darin war sie gut.
Aber was sollte sie machen? Janas Gesicht hatte sich verschlossen wie eine
Auster. Sie würde nichts preisgeben.
»Er ist
nicht freiwillig gegangen«, beharrte Jule. »Und nur du wusstest, wo er sich
aufhielt.«
Gleichzeitig
flüsterte ihr eine leise Stimme zu, dass das nicht stimmte. Auch Hermann und
Gerti waren Mitwisser. Außerdem konnte Michael mit wer weiß wem Kontakt
aufgenommen und selbst seinen Aufenthaltsort preisgegeben haben. Alles war möglich.
»Kannst
du den Penner nicht übers Handy erreichen?« drang Jana in ihre Überlegungen
ein.
»Er hat
keins.«
Den
Satz, automatisch dahingesagt, musste Jule sofort innerlich revidieren. Denn
sie wusste es einfach nicht. Egal, es nützte nichts. Sie konnte ihn nicht
erreichen, und damit basta.
»Pah.«
Jana krauste ihr schöne, schmale Nase. »Kein Handy! Wo gibt’s denn heute noch
so was? Ich sag ja, der Typ ist nicht ganz echt. Sei froh, dass du ihn los
bist!«
»Sei
still! Du weißt ja nicht, was du redest.«
Jule
dachte an den halb eingetrockneten Blutfleck neben dem Couchtisch. Ihr wurde
schlecht. Was war passiert? Was konnte sie tun?
Sie
wandte sich zur Haustür. Wortlos verließ sie das Anwesen. Ohne darüber
nachzudenken, fuhr sie am Kaarster Bahnhof rechts über die B 7 in Richtung
Vorst. Direkt vor Melanies Reihenhaus war ein Parkplatz frei. Gut. Sie stellte
den Wagen ab und lief zum Eingang des Kosmetikstudios. Was sie jetzt dringend
brauchte, war eine Verbündete.
Melanie
Pütz-Coenen hatte eine Kundin. Trotzdem wurde Jule von ihr mit einem breiten
Lächeln auf den Lippen und einem hektischen Winken hineindirigiert.
»Hallo,
Jule. Schön, dich zu sehen. Bin gleich fertig. Mach dir einen Kaffee und setz
dich, ja?«
Jule
gehorchte, allerdings widerwillig. Eigentlich war sie viel zu nervös, um hier
in aller Ruhe Kaffee zu trinken. Nach zehn Minuten war es so weit. Die Blondine
mittleren Alters, der Melanie die Hände manikürt hatte, verließ mit rosa
schillernden Krallen das Kosmetikstudio.
Melanie
setzte sich zu Jule und fing sofort zu sprechen an, in dieser für sie typischen
energetisch aufgeladenen Art und Weise.
»Ich
hab Neuigkeiten«, zwitscherte sie aufgedreht. »Ich hätte dich heute noch
angerufen. Stell dir vor, gestern war ich in der Eifel und habe Sonjas Sachen
gesichtet. Einen ganzen Stapel Briefe habe ich gefunden, die hatte sie unter
der losen Fliese in der Küche versteckt. Das war Omas und Opas Geheimfach. Dort
bewahrten sie ihre eiserne Reserve auf und den Familienschmuck. Die Bullen
hatten keine Ahnung davon. Stell dir vor, Sonja hatte tatsächlich gleichzeitig
was mit dem Dorfcasanova und Stefan! Außerdem hab ich ein seltsames Gedicht
gefunden, gleich in mehrfacher Ausführung. Meine Schwester hat sich Notizen
dazu gemacht. Das muss irgendeine besondere Bedeutung haben. Keine Ahnung
welche. Moment, ich hole den Karton mit den Briefen.«
Sie
drehte sich um und eilte mit schnellen Schritten durch eine Hintertür in den
Wohnbereich des Reiheneckhauses. Wenige Minuten später saß Jule sprachlos
inmitten von losen Zetteln, Kuverts und Briefbögen. Sie sah, dass die Adresse,
an die Sonja Bohr sich ihre Post hatte schicken lassen, ein Postfach in Bad
Münstereifel war.
Jule
wunderte sich erst, dann verstand sie: Sonja Bohr hatte auf die Weise ihren
Wohnwechsel vor der zuständigen Stelle in der JVA Köln und damit auch vor der
Kripo verschleiert. Höchstwahrscheinlich war sie weiterhin offiziell im
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