Bleischwer
fühle, wenn du mich
anfasst?«, flüsterte er.
»Nein … «
Die
Ozeanaugen kamen ganz nahe. Und dann konnte sie ihnen nicht mehr ausweichen. Es
ging einfach nicht. Sie verlor sich in aufgewühltem Meergrün. Es war wie ein
zweites Heimkommen, ihn zu küssen.
Sie
schafften es gerade bis zur Couch. Jule fühlte sich wie ausgehungert, als sie
sich an ihn schmiegte und seinen Körper ertastete. Erst jetzt merkte sie, wie
sehr er ihr gefehlt hatte … als Mann und Liebhaber. Sie erschauerte unter seinen drängenden
Berührungen, sog gierig seinen Geruch ein. Ungeduldig bog sie sich ihm entgegen
und zerrte an seinem Hosenbund. Nachdem sie einmal alle Hemmungen fallen
gelassen hatte, konnte es ihr nicht schnell genug gehen, ihn in sich zu spüren.
Später
lag sie erschöpft auf ihm, mit flachem Atem und pochendem Herzen. Noch hatte
sie das schlechte Gewissen nicht erreicht, noch genoss sie Michaels Wärme und
Nähe. Sanft strich er mit seinen Händen, die nur noch von wenigen Pflastern
verunziert wurden, über ihren Rücken und Po.
»Du
hast mir gefehlt«, wisperte er in ihr Ohr. »Es ist so schön mit dir.«
Da kamen
ihr die Tränen, weil er genau ihre Gedanken ausgesprochen hatte und weil sie
gleichzeitig wusste, dass es falsch war, was sie taten. Von Grund auf falsch.
Paradoxerweise fühlte es sich richtig an.
Irgendwann
berichtete sie Micha von ihrem Treffen mit Hermann. Von dem Prostataleiden
hatte er schon gewusst, nicht jedoch, wie schlecht es um seinen Großonkel
stand. Es machte ihm Angst.
Nur
kurz verkrampfte er sich, als sie ihm beichtete, dass sie dem alten Mann
verraten hatte, wo er sich aufhielt.
»Schon
okay. Ich möchte selbst nicht, dass sie sich Sorgen um mich machen. Und ich
weiß doch, dass sie dicht halten.«
Gedankenverloren
fuhr Jule mit den Fingern über die Innenseite seiner Unterarme. Sie stockte,
als sie die Wülste der Narben fühlte. Linien wie die Saiten über einem
Gitarrenhals. Gitarrensaitennarben. Nachklänge großer Qual.
»Wann
hast du das getan?«, flüsterte sie leise. »Wann?«
Schweigen.
Dann entgegnete er tonlos: »Direkt nach der letzten Verurteilung. Vor fast vier
Jahren.«
»Warum?«
»Ich
dachte, ich packe es nicht noch einmal. Das Eingesperrtsein. Wenn dich die
Wärter und sogar die Knackis angucken, als hätten sie nichts anderes erwartet.
Mit einem hämischen Grinsen im Gesicht.«
Häme.
Jule begann zu verstehen. Leuten ausgesetzt zu sein, die dich längst mit dem
Stigma des Versagers versehen haben und die es dir gönnen, erneut bestraft und
weggesperrt zu werden, das musste kaum zu ertragen sein. Spott. Verachtung.
Häme. Furchtbar, zumindest für jemanden, der noch ein Fünkchen Stolz in sich
trägt.
»Aber
du hast es hinter dir«, sagte sie sehr bestimmt. »Du bist auf einem guten Weg.«
»Klar,
deshalb verstoße ich auch gegen die Bewährungsauflagen und werde von den Bullen
wegen Brandstiftung gesucht«, spottete er bitter. »Super Weg. Ich würde sagen,
der schnellste zurück in den Bau.«
»Du
hast nichts getan!«, begehrte sie auf. »Und das werden wir beweisen.«
Sanft
drehte er ihren Kopf in seine Richtung und betrachtete sie aus nächster Nähe.
Dann machte er die Andeutung eines Lächelns und küsste sie sacht auf die Wange.
»Peter
Odenthal«, sagte er. »Der Scheißkerl soll sich warm anziehen. Er hat Sonja und
Stefan auf dem Gewissen. Wir werden ihn drankriegen, ja?«
Daraufhin
erzählte sie ihm von der Skatrunde.
Jörg war ausgesprochen
schlechter Laune, als er gegen 19 Uhr nach Hause kam.
»Ich
geh erst mal duschen. War ein Scheißtag«, verkündete er nach einem flüchtigen
Begrüßungskuss. Jule atmete auf, sobald er im Bad verschwunden war. Ihrem
Schuldgefühl tat es allerdings keinen Abbruch.
Was war
sie nur für eine miese Schlampe. Schlecht und verdorben. Unwillkürlich erschien
Michas vertrauensvolles Gesicht vor ihrem inneren Auge. Dann schob sich Jörgs
darüber. Mist, verdammter. Keinem dieser Männer wurde sie gerecht. Beiden
gegenüber verhielt sie sich egoistisch und unfair. Müde entkorkte sie einen
Rioja. Gerade wollte sie sich aufs Sofa plumpsen lassen, als sie eine Idee
hatte.
Sie
fachte den Kamin an. Feuer, dachte sie. Feuer wärmt von außen und von innen.
Feuer zerstört und Feuer reinigt. Beim letzten Gedanken blieb sie hängen.
Hatte
sie durch den Brand auf dem Stellplatz eine Reinigung erfahren? Keine Ahnung.
Ihr kam es jedenfalls vor, als sei ihr Leben genauso verworren und schmutzig
wie zuvor. Und
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