Bleischwer
bald frei fühlen würde. Und dann kam ihr mit einem Mal ein
gänzlich anderer Gedanke.
Steckte
etwa die Witwe selbst oder gar eines ihrer erwachsenen Kinder hinter dem Mord
an Stefan? War dessen Flucht die Gelegenheit für die Familie gewesen, endlich
endlich den Tod des Ehemannes und Vaters zu rächen? Was hatte Frau Wächter
gesagt? Ihre Tochter, Martina, lebte in der Nähe von Steinbach? Unglaublich.
Das konnte kein Zufall sein. Sie musste morgen früh unbedingt mit Micha darüber
sprechen. Micha, ein warmes Gefühl schlich sich in ihren Bauch. Resolut
schaltete sie das Fernsehgerät aus und ging zu Bett.
Erstaunlicherweise
schlief sie schnell ein. Mitten in der Nacht wurde sie kurz wach und
registrierte, dass Jörg abgewandt und in einigem Abstand neben ihr lag. Mit
einer Mischung aus Erleichterung und Schuldgefühl glitt sie zurück in einen
tiefen, traumlosen Schlaf.
Der nächste Morgen. Freitag.
Jörg war längst weg, als sie die Augen öffnete. Sie hatte ihn nicht gehört.
Wahrscheinlich hatte er sich leise hinausgeschlichen. Ihr Mann hasste private
Streitigkeiten genauso wie sie. Flucht und Schweigen waren seine bevorzugten
Vermeidungsstrategien. Darin zumindest waren sie sich ähnlich. Jules Glieder
fühlten sich bleischwer an, als sie sich aus dem Bett schälte.
Mit dem
ersten Kaffee kam die Lebendigkeit und mit ihr leider auch die alte verworrene
Gefühlswelt zurück. Ihr verkorkstes Leben umschlang sie mit unsichtbaren
Stricken, die sie fesselten und würgten. Du bist selbst schuld, schimpfte sie
sich aus. Das Leben könnte so einfach sein, aber du machst alles kompliziert
und kaputt. Typisch. Es brachte nichts, weiter darüber nachzudenken.
Stattdessen
beschloss sie, die Pizzazutaten für heute Abend einzukaufen und danach kurz bei
Michael vorbei zu schauen. Unbedingt musste sie ihm von ihrem neuesten Verdacht
erzählen. Außerdem hatte sie dringend ein ernstes Wörtchen mit Jana zu
wechseln.
Mit
diesen Plänen im Kopf verließ sie das Haus.
Draußen begrüßte sie der Tag
mit einem klaren blauen Himmel und warmer Frühlingsluft. Gefühle von
Leichtigkeit und Übermut hellten ihre düstere Grundstimmung auf, nachdem sie
bei Aldi und Edeka – auch für Micha – eingekauft hatte. Vielleicht
würde doch noch alles gut werden. Vielleicht würden sich die Dinge auf
wundersame Weise von selbst klären.
Sie
freute sich auf Michael, während sie den Wagen in der Einfahrt parkte.
Im
dämmrigen Flur wurde sie von einer unguten Vorahnung überrascht, die ihr wie
eine faulige Wolke entgegen quoll. Jule bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper,
während sie mit dem Einkaufskorb unterm Arm auf den kalten Marmorfliesen stand.
Obwohl sie nach ihm rief, wusste sie, dass sie keine Antwort bekommen würde.
»Micha!«
Ihre
Stimme hallte durch das Haus und versickerte in den Schatten. Zaghaft betrat
sie das abgedunkelte Wohnzimmer. Nichts.
»Micha?«
Sie
eilte in die kleine Küche und wuchtete den schweren Korb auf die Arbeitsfläche.
Forschend schaute sie sich um. Die Kaffeemaschine war sauber und unberührt.
Kein einziger Frühstückskrümel, keine Tasse, kein Messer ließen darauf
schließen, dass hier heute morgen jemand etwas zubereitet hatte. Jule fasste
den Lappen an, der über dem Wasserhahn am Spülbecken hing. Staubtrocken. Fahrig
riss sie den Kühlschrank auf. Wurst, Käse, Milch, alles noch in gleicher Menge
da wie gestern. Jetzt griff die Angst mit klammen Fingern nach ihr. Sie knallte
die Kühlschranktür zu und lief ins Wohnzimmer zurück. Auf dem Couchtisch
standen noch ihrer beider Weingläser, daneben die leere Flasche.
»Micha?«
Mit
wild klopfendem Herzen ging sie ins Gästezimmer. Das Bett war in typischer
Faßbindermanier gemacht: die Bettdecke straff und ohne jede Falte. Allerdings
zeugte das nicht unbedingt davon, dass Michael die letzte Nacht in diesem Bett
verbracht hatte. Es konnte genauso gut noch von gestern Vormittag gemacht sein.
Auch im Bad war niemand.
Nun
wurde sie von Panik erfasst. Atemlos hetzte sie von Raum zu Raum; sogar im
Keller rief sie nach ihm. Nachdem sie einmal die Rasenfläche des Gartens
überquert und im Gartenhäuschen nachgeschaut hatte, kehrte sie ratlos ins
Wohnzimmer zurück. Da erst entdeckte sie eine zweite leere Rotweinflasche, die,
unter dem Couchtisch verborgen, dicht am Sofa lag. Die letzten Tropfen Wein
waren in den Teppich gesickert. Jule hockte sich hin, um die Flasche
aufzuheben. Dabei packte sie in eine klebrige Flüssigkeit, die sie
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