Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
in seinem Laden. In einer der vielen Kneipen? Dick war unberechenbar, besonders in Gefahrensituationen. Der Gedanke war also nicht von der Hand zu weisen.
Eine Weile stand ich unschlüssig auf dem Marktplatz. Dann kam ein LKW die Straße herab. Er fuhr sehr schnell. Ich sprang zur Seite, beobachtete, wie er hielt, sah den Fahrer aussteigen und in einem Lokal verschwinden. Kurze Zeit später kam er mit Schläfti heraus. Sie hatten sich untergehakt, lachten beide. Schläfti hatte einen uralten Rucksack umgeschnallt. Sie stiegen ein. Als sie anfuhren, rannte ich hinterher. »Schläfti«, schrie ich, »mach’s gut, mein Freund!«
Ich sah seine Hand aus dem Fenster kommen. Sie hing wie ein schlappes Tuch herab und pendelte hin und her. Schläfti winkte mir zum Abschied.
In jeder Kneipe, die ich besuchte, trank ich ein Glas Sprudelwasser. Nirgends war Dick. Aber die Gespräche drehten sich meistens um den Skandal bei der gestrigen Vorstellung. Die wildesten Theorien waren zu hören. »Das war kein Amokläufer«, sagte jemand. »Das war gezielter Terror. Die kulturellen Werte sollen untergraben werden.«
Dicks Name fiel nicht. Er mußte sich gut verkleidet haben. Ich ging zur Bahnhofsgaststätte, hoffte, daß er endlich Vernunft angenommen hatte und abreisen würde.
Im Mitropa war weniger los als sonst. Dick war nicht da, aber vielleicht würde er ja noch kommen.
Ich stellte mich an den Tresen und trank mein erstes Bier. An dem großen, runden Tisch neben der Tür, wo die Mäntel hingen, saß ein einzelner Gast. Er war sehr anders gekleidet als die übrigen Personen im Raum. Elegant, englisch dezent, wie ein Geschäftsmann aus dem Westen. Das Seidenhemd war erste Qualität, ebenso der tomatenrote Sakko.
Der Mann hatte blonde, aus der hohen Stirn gekämmte Haare. Er war glattrasiert. Seine hellgrauen Augen blickten ruhig. Irgendwie kam er mir bekannt vor, fast vertraut. Dann entdeckte ich den Kaschmirmantel und die Jockeymütze am Garderobenhaken.
Es war der Kerl aus dem Zug, der sich so aufgeregt hatte über die hygienischen Verhältnisse.
Ich setzte mich zu ihm. »Na? Sie schimpfen ja gar nicht«, sagte ich. Ich war vollkommen überdreht. »Sehen Sie, da, die Flecken auf der Decke, ekelhaft, Soßenflecken, Asche, diese Leute hier können nichts sauberhalten!« Er reagierte nicht. Nur der spöttische Blick seiner wasserklaren Augen ruhte auf mir.
»Das Bierglas ist vollkommen versaut!« Ich hob es gegen das trübe Licht der Glaskugellampe.
Die Kellner starrten feindselig zu uns herüber. Mein Tischnachbar sagte immer noch kein Wort. Sein maliziöses Lächeln war Kommentar genug. Ich wurde immer wütender.
»Sie können sich noch so fein herausputzen - Sie werden automatisch innerlich schmutzig, wenn Sie diese verpestete Luft hier atmen.«
»Um so besser für Sie, daß Sie mit dem nächsten Zug abreisen.« Seine Stimme war angenehm, ein wenig hoch zwar, aber perfekt moduliert. Ich glaube, sie war der Grund, daß ich ihn plötzlich erkannte. Kein Zweifel, er war es. Wie hatte ich diesen Blick übersehen können, diesen typischen weiten Abstand seiner Augen! Die Farbe der Iris kann man durch Haftschalen verändern, aber niemals die Stellung der Augen. Sie sind ein charakteristisches Merkmal, so einzigartig wie Fingerabdrücke. Haarwuchs, Bart, Frisur, all dies wird gewöhnlich überschätzt. Selbst die Form der Lippen kann man verändern durch Anspannung der Mundmuskulatur.
»Es ist eine gute Idee von Ihnen, abzureisen. Ein wirklich vernünftiger Entschluß. Ich habe Ihnen Ihre Sachen mitgebracht.«
Er zog einen Koffer unter dem Tisch hervor und klappte ihn auf. »Sehen Sie, nichts fehlt.« Seine feingliedrige Hand befingerte meine Kleidung, das Vertreterkostüm, den CD Player. Dann zog sie die Postkarte heraus.
»Wirklich kein sehr gutes Bild«, sagte er. »Dem feierlichen Anlaß keineswegs angemessen. Die Beerdigung des Kaisers. Man erkennt Hermine nicht. Welche ist sie? Der Schleier verbirgt beide Frauen mitsamt den Tränen ihrer Trauer. Echte Tränen, Mijnheer Hieronymus. Perlen wahren, patriotischen Schmerzes.«
Er war ekelhaft. Immer noch überlegte ich, wie ich ihn beleidigen könnte.
»Wußten Sie übrigens, daß Hermine sich einmal mit Hitler getroffen hat? Im Boudoir einer Freundin in Berlin. Es soll zu Intimitäten gekommen sein. Nicht auszudenken, wenn die Fusionierung der Monarchie mit dem Nationalsozialismus gelungen wäre! Leider verstanden sich die beiden Bewegungen als Konkurrenzunternehmen.
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