Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
für ihn nicht mehr zu existieren. Die große Katze sah mich aus ihren blinden Augen an, als wollte sie mir mangelnde Zurechnungsfähigkeit attestieren.
»Wir unterscheiden verschiedene Ursachen der Bildung von Sedimenten. Es gibt glaziale Sedimente wie Moränen, wie Löß. Es gibt äolische Sedimente, durch Wind erzeugte Ablagerung. Die Lebensbedingungen auf unserer Erde sind vornehmlich durch solche Sedimente bedingt, die Güte des Bodens, die Formen der Landschaft. Für uns Geologen ist die Erdoberfläche mit ihren Tälern, Schutthängen, Bergen, Seen ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch, das wir zu lesen versuchen. Waren Wind, Kälte und Wasser die ursprünglichen Hauptursachen der Erosion und der ihr nachfolgenden Sedimentbildung, kamen später die Pflanzen hinzu, die Mikroorganismen, die Muscheln mit ihren Schalen. Zuletzt kam der Mensch. Mit ihm beginnt ein neues Kapitel der Erdgeschichte, das der hominiden Sedimente. Begreifen Sie? Nach der Phase der humiden und äolischen Sedimente, die einige Jahrmilliarden andauerte, nach dem erdgeschichtlich späten Hinzutreten der biologischen Sedimente jetzt blitzartig und mit rasanter Geschwindigkeit ablaufend die Phase der hominiden Bodenerosion. Weniger wissenschaftlich gesprochen, nach Wasser, Wind, Pflanzen und Meerestieren jetzt der Mensch als der große Erdkrustengestalter. Die Tiere haben übrigens trotz Wühlmäusen und Maulwürfen nur eine ganz kleine Statistenrolle. Anders wir. Die Umwälzungen sind frappant, die geologischen und klimatischen Konsequenzen enorm. Denken Sie nur an die Sedimentbildung durch den Straßenbau und die Bodenerosion durch Landwirtschaft und Bergbau. An die Ausbreitung äolischer Sedimente durch das Vordringen der Wüsten, dessen Ursache wiederum menschliche Aktivitäten sind. Sie können sämtliche Berufe bestens nach ihrer Bedeutung für die Bodenerosion unterteilen. Den Landmann mit seinen Düngungs- und Pflugtechniken erwähnte ich schon, ebenso den Bergarbeiter. Aber auch der Verkehrspolitiker ist nicht besser. Er trägt zur wasserundurchdringlichen Oberflächenschichtung bei, wie wir sie als Wüstenlack bislang nur in den ariden Zonen Nordafrikas beobachten konnten. Sie werden sich vielleicht wundern, daß indirekt auch sehr bodenferne Berufe sedimentalen Einfluß haben. Zum Beispiel die Religion, die Vertreter der Kirche. Monotheismus hat die Agrarreform hervorgebracht, die Monokulturen, die deutlich ein Phänomen der Bodenzerstörung sind. In einer polytheistischen Gesellschaft hätten wir heute mehr Feuchtbiotope, das ist meine felsenfeste Meinung. Die Geologen einer künftigen nachhominiden Epoche werden die Menschen neben Wind und Wasser, Kälte und Vulkanismus als eine einzige gigantische und seelenlose Naturkraft beschreiben, die zur flächendeckenden Umgestaltung der Erdkruste, zu ihrer Verwüstung, Austrocknung und Unfruchtbarkeit schneller und stärker geführt hat als alle Eiszeiten oder Meteoriteneinschläge der erdgeschichtlichen Epochen zusammengenommen. Nach dem Ende der Menschheit wird es zu einer gewaltigen Vermoorung kommen. Es werden neue Urstromtäler, neue humusbildende Mikroorganismen auftreten, die ganz allmählich in mühseligster Kleinarbeit der Erde ihr ansehnliches, grünes, vielfältig geschmücktes Gewand wiedergeben werden. Hier, bei uns, in der sogenannten Ex-DDR sind wir übrigens besonders weit, was die hominide Bodenerosion anbelangt.«
Er schenkte sich und mir nach, beugte sich vor, gab der Katze einen Schubs, worauf sie sich mit steif nach oben gerichtetem Schwanz davonmachte.
»Kommen Sie mal näher«, flüsterte er. »Ich sage Ihnen jetzt etwas, was Sie noch nie gehört haben.«
Ich streckte ihm meinen Kopf gehorsam entgegen.
»Unter dem Kaiser war es besser. Die Erosion war bei weitem nicht so schlimm wie heute.«
Er lehnte sich zurück und lächelte.
Von draußen waren Geräusche zu hören, ein gleichmäßiges Klopfen. Es war ihr Stock, mit dem sie sich den Weg ertastete. Die Tür ging auf. Sie stand im Rahmen wie in einem Bild aus der alten Zeit, das Porträt einer ehemals schönen, in Würde gealterten Frau.
»Es ist angerichtet«, sagte sie.
Er sprang auf und folgte ihr in die Küche. Ich erbot mich zu helfen, aber sie wollten nicht. Während er Teller, Schüsseln, Gläser und Besteck hereinbrachte, alles sehr edel, Kristall, Silber, echt Meißen, befiel mich wieder jene Trance, die mit diesem Ort auf rätselhafte Weise verbunden schien. Ich war stoned, um es mit einem ganz und
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