Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
gar unpassenden Ausdruck zu umschreiben, und ich strengte meine verlangsamten Gedanken an, herauszufinden, woran dies wohl liegen mochte. Am ehesten noch an der Zeit, dachte ich. Hier hat sie ein anderes Tempo, sie fließt langsamer, vielleicht sogar rückwärts.
Dann war der Tisch fertig gedeckt. Ein fünfarmiger Silberleuchter brannte. Der Gastgeber begann, den Braten zu tranchieren. Ein großer nackter Vogel mit goldbrauner Haut. Dazu gab es Rotkohl und Pellkartoffeln.
»Unser Weihnachtsessen«, sagte sie. »Das stimmt«, ergänzte er. »Wir essen es immer ein paar Tage vorweg. Weihnachten fasten wir. Es ist die bessere Reihenfolge. Vielleicht liegt es daran, daß ich im Heim für so viele Menschen das Weihnachtsessen kochen mußte. Ich konnte dann kein Fleisch mehr sehen.«
Der Vogel war zäh, aber er schmeckte. Sein Fleisch hatte einen Wildhautgout.
»Was ist das für ein Tier?« fragte ich.
»Ein Puter«, sagte er. »Eine ganz besondere Sorte. Nicht diese weißlichen, überzüchteten Vögel, die ihr im Westen verkauft. Ich habe ihn durch Beziehungen.«
Eine Weile kauten wir stumm und schlürften den hervorragenden Weißwein, der von der Unstrut kam, wie der Gastgeber stolz erklärte. »Der Sozialismus hat den Reben nichts anhaben können«, sagte er. »Wissen Sie, Sie sind unser erster Besuch seit langer Zeit. Wir sind in all den Jahren etwas komisch geworden, fürchte ich. Weltfremd in einer Welt, die uns fremd ist, könnte man sagen. Könnte man das sagen, Lilli?«
Sie nickte ihrem Mann zu. Trotz ihrer Sehschwäche schenkte sie mir ein, ohne einen Tropfen zu verschütten. Der Schmuck an ihrem Handgelenk war von bester Qualität. »Mein Mann redet gut und viel«, sagte sie. »Das hat ihn schon oft in Schwierigkeiten gebracht.«
»Ach, weißt du, Lilli, es ist ganz normal, wenn man Schwierigkeiten hat. Wenn man keine hat, ist etwas faul mit einem in diesem Staat. Es gibt hier sehr viele verschiedene Menschen und genauso viele Meinungen, aber wenn man sie alle zusammenrührt, hat man immer die gleiche Farbe. Ein Maler hat es mir einmal erklärt. Alle Spektralfarben zusammen ergeben Weiß, Spektralfarben sind nämlich rein, sie sind die Bausteine des Sonnenlichts. Nimmt man aber gewöhnliche, unreine Farben, solche, die man im Tuschkasten hat, und rührt sie alle zusammen, hat man Braun. Verstehen Sie, unser ganzes Nest war vor der Wende rot. Jetzt ist die CDU an der Macht. Wir sind schwarz, wir haben aber auch Grüne und Gelbe hier. Und viele Graue, viele ohne Meinung. Und was ergeben alle zusammen für eine Mischung? Braun, das ist doch klar. Wir waren schon immer braun, alle zusammen. Setzen Sie zehn von uns in einer Wirtschaft an einen Tisch, und sie haben nach spätestens einer Stunde Diskussion eine einheitliche Position: braun. So ist es. Man ist machtlos dagegen.«
»Heißt der Maler vielleicht Derbacher? Heinz Derbacher?«
Er nickte. »Ja, ein feiner Kerl. Einer der wenigen hier, die sich immer herausgehalten haben. Erstaunlich, daß man ihn in Frieden gelassen hat, aber man hat dafür gesorgt, daß er erfolglos blieb. Er hat bis heute keine Ausstellung bekommen. Ich habe ein Bild von ihm. Es hängt drüben.«
»Darf ich es sehen?«
Er stand auf und ging voran. Sie folgte uns, ich hörte, wie ihr Stock gegen die Möbel und Wände pochte. Im Flur war es dunkel. Er war L-förmig und endete vor einer schmalen Tür. Dahinter lag ein großes Zimmer. »Es ist ganz in ihrem Stil eingerichtet, so wie sie es mochte. Alles echt, reine Gründerzeit. Meine Frau hat alles gesammelt und so arrangiert.«
»Wer ist ›Sie‹?« fragte ich.
»Hermine.« Dann zeigte er auf ein Bild, das nicht so recht in das sonst perfekte Ensemble der Einrichtungsgegenstände paßte. Es war tatsächlich ein typischer Derbacher. Eine Mondlandschaft, wobei die unterirdische Welt mitgemalt war. Bläulich quollen Hirnwindungen aus der Tiefe, die sich oberirdisch in Bergen und Bäumen fortsetzten. Ein silbern schimmernder Weg schlängelte sich zum Horizont wie ein Laufsteg in die Unendlichkeit des Alls.
»Der Buchhändler hatte auch einen Derbacher in seinem Laden hängen. Er hat ihn wieder abgenommen, weil die Kundschaft sich daran gestört hat. Kennen Sie den Buchhändler? Ich glaube, es ist ein Landsmann von Ihnen. Er hat hier einen schweren Stand. Ich glaube nicht, daß er sich noch lange halten kann. Wir kaufen manchmal ein Buch bei ihm. Aber wir haben zuwenig Geld.«
Auf dem Rückweg sah ich durch eine angelehnte Tür in
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