Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
einen kleinen, kahlen Raum. Er war voller weißer Federn, als hätte es in ihm geschneit. Das Schlafzimmer der Frau Holle, dachte ich.
Dann saßen wir wieder um den Tisch. Er redete wirklich unaufhörlich. Nur selten ließ er seine Frau zu Wort kommen. Er erzählte von seiner Arbeit im Altersheim, er habe sie alle mitbekommen, die vielen Selbstmorde alter Menschen, die es nicht mehr ausgehalten hätten, wie Vieh behandelt zu werden. Die frühere Regierung habe nichts übrig gehabt für Alte, obwohl ihr selber so viele Alte angehörten. Alter als Schande. Die Zeit als die Macht, die sich nicht gängeln ließ. Die geographische Bewegungsfreiheit habe man durch die Mauer einschränken können, nicht aber die zeitliche. Zum Tode hin sei jedes Leben offen.
»Der Tod als Republikflucht«, sagte er. Die Herren da oben seien der Meinung gewesen, man habe mit Siebzig sein Soll an Jahren erfüllt. Euthanasie sei es gewesen, in ein Altersheim geschickt zu werden. Perverse Euthanasie, von Leuten verhängt, die selber ins Altersheim gehörten.
Er redete sich immer mehr in Zorn. Die Katzen bewegten sich lautlos wie Schatten im Raum. Das große blinde Tier saß wieder auf dem Tisch und sah mich mit seinen leeren Mondsteinaugen an. Lilli saß neben ihm und kraulte es, während sie ihrem zornigen Mann ergeben lauschte. In einer der seltenen Pausen, die er machte, sagte sie: »Ich habe sie gesehen, nach der Kapitulation habe ich sie gesehen.«
»Wen haben Sie gesehen, gnädige Frau?« fragte ich. Sie schloß die Augen und lehnte sich mit zufriedenem Gesicht zurück in den Biedermeierstuhl. »Die Kaiserin habe ich gesehen. Sie war tief verschleiert, denn sie wollte nicht erkannt werden. Aber jeder wußte, daß es die Kaiserin war. Ich habe sie auf der Brücke erkannt. Sie war auf dem Weg zum Schloß. Dorthin, wo sie groß geworden ist.«
»Lilli redet von der letzten Frau des deutschen Kaisers«, mischte er sich ein. »Er hat sie im Exil in Holland geheiratet, als er schon kein Kaiser mehr war, weil er abgedankt hatte, auf Druck der Regierung. Es war eine Tragödie. Und die späte Ehe war ein Glück für ihn. Für viele von uns ist er der Kaiser geblieben und seine letzte Frau, die von hier stammt, deshalb die Kaiserin. Sie war eine Prinzessin unserer einheimischen Dynastie. Sie sollten zu Doktor Vielbrunn gehen, er leitet das Archiv oben auf dem Schloß, er weiß alles über unsere Geschichte und über die Kaiserin.«
»Unter dem Kaiser war alles besser«, sagte Lilli. »Auch den Arbeitern ging es besser in den Webereien. Allein die Muster. Es gab viel mehr Abwechslung im Dessin damals.«
Er schenkte Kaffee aus, und ich trank fünf Tassen. Allmählich kehrten meine Lebensgeister zurück. Ich erzählte ein wenig von mir, von meiner Liebe zu Deutschland, zur deutschen Musik und zum Vater Rhein, der bei meinen Landsleuten in besonderer Gunst stehe.
»Wissen Sie auch, warum?« fragte er mich. »Das ist furchtbar einfach zu begreifen. Ganz Holland ist geologisch betrachtet nichts anderes als das Delta dieses Flusses. Ihr Land ist also im wahrsten Sinne des Wortes das Kind des Vaters Rhein. Er hat im Verlauf der Erdgeschichte seine Mündung mehrfach verlegt, von Norden immer wieder ein Stückchen nach Süden. So sind die Niederlande entstanden!«
Als sie mich endlich gehen ließen, hatte ich das Gefühl, aus einem tiefen Brunnen aufzutauchen, an dessen Grund eine schwarze Pfütze Zeit war. Nachts spiegelten sich die Sterne der wilhelminischen Ära in ihr.
Es war schon dunkel. Wieder ging ich die gebogene, unbeleuchtete Straße hinab in den Ort. Der Mond schien. Fast kam ich mir vor wie in einem echten Derbacher. Wie vertraut war mir alles bereits! Auch den Gestank roch ich nicht mehr so deutlich wie am ersten Tag.
Im Hotel trank ich in der Nähe der lärmenden, saufenden und rauchenden Vertreterrunde ein paar Biere. Die Männer hatten ihre Sakkos ausgezogen, die Schlipsknoten gelockert und erzählten sich Witze, die alle wie Kurzfassungen grausamer deutscher Märchen klangen. Von Rumpelstilzchen, Frau Holle, dem Däumling, Rapunzel.
Schließlich ging ich nach oben auf mein neues Zimmer mit dem festen Entschluß, morgen zu fahren. Ich wollte nur noch herausbekommen, wer Hermine war.
Fünftes Kapitel
I rgendwann in der Nacht erwachte ich aus Alpträumen. Ich stand auf, ging ans Fenster und sah hinaus auf den leeren Platz. Feiner Schnee stäubte im Licht der einzigen Laterne.
Ein Auto näherte sich. Wie gewöhnlich fuhr es viel
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