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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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begann ich, Fotos zu machen. Alles geschah unendlich langsam, in Zeitlupe, als beobachtete ich aus einem anderen Intertialsystem ein mit annähernd Lichtgeschwindigkeit vorbeifliegendes Raumschiff, für das bekanntlich die Einsteinsche Zeitdehnung gilt.
    Sie schlugen auf ihn ein. Völlig lautlos war alles aus der Ferne. Dennoch glaubte ich trockene, dumpfe Schläge zu hören, gedämpft von Kleidern und Fleisch. Während ich instinktiv wieder und wieder auf den Auslöser drückte und den Film transportierte, fiel Derbacher. Er fiel übertrieben langsam, wie ein Ballon, der sanft zu landen versucht. Als er am Boden lag, packten sie ihn an Armen und Beinen und zerrten ihn auf die Fahrbahn. Dort ließen sie ihn fallen wie einen Sack.
    Jetzt erst überwand ich meine Lähmung. Ich rannte und rannte, aber es war, als käme ich nicht näher, weil ich mich in einer zähen Welt aus durchsichtigem Gummi bewegte.
    Ich sah, wie die Männer nach allen Seiten davonrannten. Heinz lag immer noch regungslos da, ein zugebundener Sack, in dem ein Mensch steckte.
    »Heinz«, schrie ich. »Heinz!« Sein Kopf bewegte sich, rollte auf die Seite.
    Dann war da plötzlich ein blauer Lieferwagen mit einem gemalten nackten Hähnchen auf der Seite. Er bremste, doch es war zu spät. Der Menschensack verschwand unter seinen Rädern, und ich sah, wie er in veränderter Lage zum Vorschein kam.
    Jetzt war der Ton des Films auch da. Bremsen kreischten. Aus irgendeinem Mund drang ein langer, spitzer Laut. Der Wagen kam schräg zur Fahrbahn zum Stehen, und jemand mit einem weißen Gesicht stieg aus, lehnte sich an das Fahrzeug und erbrach sich.
    Leute näherten sich, schwarze Gestalten, die wie Statuen auf kleinen Postamenten das Bündel umstanden, das da auf schmutzige Schneereste gebettet lag. Man machte mir Platz. Ich fiel auf die Knie und legte meine Ohr an seine Brust. Wenn noch Leben in ihm war, dann pendelte es auf und ab wie ein kleines, rotes Jojo an einem dünnen Faden. Ich hörte ein leises Röcheln, das aus weiter Ferne zu kommen schien. Ein Streifen Blut rann aus seinem offenen Mund. Wie wünschte ich mir, daß dort wie auf mittelalterlichen Bildern ein kleines geflügeltes Wesen herauskroch, um zum Himmel zu fliegen, die Seele mit all ihren Träumen und Schmerzen und Erinnerungen. Aber so war es nicht. Da war nur dies kaum hörbare Röcheln, das von den Würgegeräuschen des anderen übertönt wurde. Alles an dieser Jammergestalt wirkte verrenkt, die Proportionen falsch, die Glieder, die Kopfhaltung, ein Leib ohne Zusammenhang, ein mutwillig zerstörtes Spielzeug, ein gewesener Mensch, der nun aus Teilen bestand, die nie mehr zusammenpassen würden.
    »Heinz«, flüsterte ich. Er antwortete nicht. Die mir so vertrauten grauen Augen waren aus ihren Höhlen getreten, als sei es ihnen zu finster dort. Er war ein Fremder geworden, aber noch spürte ich jene Sehnsucht nach Freiheit, von der er geredet und gemalt hatte. Sie lag wie ein feiner Schleier über ihm.
    Ich drehte den Kopf, sah an den schwarzen Statuen hoch und verlangte nach einem Arzt. Obwohl ich wußte, daß es zu spät war, schrie ich es heraus. »Holt sofort einen Arzt!«
    Ich habe während meiner Ausbildung als Psychologe auch ein wenig Medizin studiert. Trotzdem bin ich nicht in der Lage, den Tod eines Menschen wie ein Fachmann zu diagnostizieren. Ich bilde mir jedoch ein, mit großer Sicherheit einen Exitus feststellen zu können. Es ist, als ob ein Toter auf eine Weise einsam ist wie niemals ein Lebender. Jemand ist fortgegangen, der dem Toten ähnlich sieht wie ein Zwillingsbruder. Ich weigere mich, diese fortgegangene Person Seele zu nennen. Ich würde sie lieber mit dem Vornamen des Verstorbenen bezeichnen. Heinz war gegangen. Er hatte jemanden im Schnee zurückgelassen, der nur noch einen Nachnamen trug.
    »Holt einen Arzt, verdammt!« schrie ich noch einmal.
    Jemand ging fort, die anderen rührten sich nicht. »Holt die Polizei«, schrie ich. »Es war Mord, ihr habt es alle gesehen, ihr seid Zeugen gewesen.«
    Eine zweite Gestalt verschwand. Es war wie in einer sparsamen Choreographie.
    Ich erhob mich und klopfte mir den Schnee von den Kleidern. Ich werde es nicht vergessen, daß ich in diesem Augenblick zu einer so mechanischen und banalen Handlung fähig war. Ein allzu schäbiger Beweis meiner Lebenstüchtigkeit.
    »Ein Unfall«, sagte jemand. »Ich habe es genau gesehen. Er ist ins Auto gelaufen.«
    »Wer die Mörder gesehen hat, bleibt hier, die anderen verschwinden.

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