Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
schlimmer, ein Gefängnis ohne Mauer! Ich habe nur einmal ein spontanes Gefühl gehabt, frei zu sein. Das war an der Nordküste von Rügen. Ein Kliff wie ein Schiffsbug. Man sieht nach drei Seiten nur Wasser, nur den Horizont. Als ob die ganze DDR nach Norden unterwegs sei. Damals habe ich mich frei gefühlt. Seitdem bin ich jedes Jahr an diese Stelle gefahren, aber so stark hat sich das Gefühl nie wiederholt.«
»Ich war im letzten Jahr in Norwegen. Es gab da fast zuviel Weite, eine Überdosis Freiheit des Blicks, die einen depressiv machen kann.«
Derbacher erhob sich und ging unruhig auf und ab. Er kratzte sich seine braunen Locken. »Ich habe dort immer hinwollen, weg aus diesem Kessel. Die Vorstellung, daß unser Fluß irgendwo ins Meer mündet, reicht nicht als Trost. Am liebsten würde ich zur See fahren.«
Ich weiß nicht, warum ich es gerade jetzt tat. Ich griff in meine Reisetasche und holte die Uniform hervor, Jacke und Kopfbedeckung. »Das da hab ich gefunden, weißt du, was es ist? Es sieht nach Marine aus.«
Derbacher war stehengeblieben. Er wirkte bleich. Seine Augen blickten unstet. Seine Hände lagen an den Nähten seiner Hosenbeine. Fast sah es aus, als würde er vor der Uniform strammstehen.
Ich wiederholte meine Frage.
»Wo hast du sie her?« fragte er. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und stützte seinen Kopf in beide Hände.
»Heinz«, sagte ich. »Ich habe die Jacke einem Toten ausgezogen. Du mußt mir jetzt sagen, was du weißt.«
Er blickte mich an mit Augen, die irgendeine Furcht gläsern machte.
»Eine Offiziersjacke der englischen Marine gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts.« Er brachte die Wörter nur mühsam heraus. »Der Mann, der sie trug, war tot?«
»Ja«, sagte ich. »Er saß am Steuer eines LKWs, der fast mein Hotel in Brand gesetzt hätte.«
Derbacher setzte sich.
»Die Uniform ist aus dem Fundus«, sagte er leise. Er schien sich wieder gefaßt zu haben. »Es gibt hier im Schloß ein Theater und einen dazugehörigen Fundus. Da hab ich solche Uniformen gesehen.«
»Kannst du mir zeigen, wo das ist?«
Er schien zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf. »Es geht nicht«, sagte er. »Jedenfalls nicht jetzt.«
Er sah auf die Uhr. »Aber ich möchte dir etwas anderes zeigen. Kommst du mit?«
Ich folgte ihm durch den langen Flur. Die Wohnung war riesig. Am Ende des Flures war eine Klappe in der Decke. Derbacher zog sie auf und angelte mit einem Stock eine Leiter aus dem Loch herab. Er kletterte voran, ich folgte ihm in die Finsternis eines Dachbodens, die bald vom Licht einer einzelnen Glühbirne erhellt wurde. Es war eiskalt und zugig. Überall pulvriger Schnee, den der Wind durch die Schindeln gepreßt hatte. Derbacher führte mich zu einem flachen, von Tüchern verhangenen Gegenstand. Sein Format war höchst ungewöhnlich. Mannshoch und gut zehn Meter lang. Der Maler machte ein feierliches Gesicht, als er die Tücher wegzog. Ein Bild kam zum Vorschein, ein riesiges Panoramagemälde, über das jetzt der Lichtkreis einer Taschenlampe glitt.
Eine pittoreske Küstenlinie, bizarre Berge, Wasser davor, grau und manchmal perlmuttfarben irisierend, phantastische Wolkenbildungen mit lila und orangefarbenen Rändern, überraschend grüne Lichtpfützen darin, ein Prospekt von grandioser Schönheit und Melancholie. Ich war mir fast sicher, die Silhouette dieser Berge schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Es war ein Pleorama.
»Die Lofoten«, sagte Derbacher. »Ich habe das Bild nach Fotografien gemalt. Eine Auftragsarbeit. Dies ist das Original. Es hat mir selbst so gefallen, daß ich eine Kopie gemacht habe. Die habe ich dann an den Auftraggeber verkauft. Er weiß nichts davon. Leider kann ich das Bild nicht in meine Wohnung hängen. Mein Flur wäre groß genug, aber es könnte sich herumsprechen.«
Er wirkte stolz, sah aus wie ein Seeheld auf der Brücke seines Schiffes. Die Uniform hätte ihm gut gestanden. Draußen heulten Windböen. Das Wetter schien sich zu ändern. Schnee stäubte auf. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn das ganze Schloß inzwischen durch das Nordmeer getrieben wäre.
Derbacher verhängte das Bild sorgfältig. Dann stiegen wir wieder hinunter in die Wohnung. Wieder saßen wir schweigend da, tranken den kalt gewordenen Tee, hörten Blues. Ich fühlte mich hingezogen zu diesem Menschen. Er war so sanft, so leise. Seine Bilder waren nahe am Kitsch, aber sie hatten eine suggestive Ehrlichkeit.
Auch ihm schien meine Anwesenheit wohl zu
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