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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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sagen. Ich habe gehört, daß es im Englischen auch ›the Lied‹ heißt, wenn von dieser Gattung die Rede ist.«
    »Hast du etwas da?«
    »Die Winterreise. Es ist der schönste Liederzyklus der Welt.«
    Er erhob sich und legte die Platte auf. So hundemüde wie ich war, so intensiv wie jetzt hatte ich diese Lieder noch nicht gehört. Ich hörte die irren Hunde heulen, den Lindenbaum rauschen, vernahm das Posthorn. Dann, ganz am Ende, der Leiermann, Gevatter Tod. Dieses verrückte Lied, das im Text genauso wie in der Musik mitten in der letzten Strophe abbricht. »Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?«
    Ich schreckte auf, jemand hatte mich in die Seite gestoßen.
    »Du bist eingeschlafen«, sagte Heinz. »Soll ich dir ein Bett bauen?«
    Draußen wurde es hell. Ich wollte ins Hotel zurück. Wollte wissen, was aus dem LKW geworden war. Ich mußte die Spur wieder aufnehmen.
    Heinz brachte mich hinunter. Ich bemerkte, daß der Haufen von Holzscheiten größer geworden war. Im Block steckte wieder die Axt. Seltsam, daß ich niemanden hacken gehört hatte. Dann standen wir vor der Einfahrt. Grauer Himmel lag über uns, voller schnell treibender Wolkenfetzen. Es regnete hart und kalt, wie bleierner Schrot, der Schnee auf dem Boden war voller kleiner Einschußlöcher.
    »Typische Westlage«, sagte ich. »Der Wind kommt direkt aus Holland. Man riecht den Käse.« Es sollte ein Witz sein, und Heinz lächelte brav. Wir gaben uns lange und fest die Hand.
    »Kannst du mich heute besuchen?« sagte ich. »Ich würde gerne einen Spaziergang mit dir machen. Sagen wir, heute nachmittag gegen vier?«
    Er nickte.
    »Und ich möchte ein Bild von dir kaufen, ehe ich fahre. Am liebsten die ›Freiheit‹, aber das wirst du kaum hergeben wollen, und es ist auch ein bißchen zu groß, um es mitzunehmen.«
    Ich sah ihm nach, wie er im schwarzen Durchgang des Torhauses verschwand.
    Vor dem Hotel stand ein Wagen der Feuerwehr. Die Unfallstelle war mit einem rotweißen Plastikband abgesperrt. Über das ausgelaufene Benzin hatte man irgendeine weißliche Substanz gestreut. Es stank immer noch bestialisch.
    Dann lag ich endlich im Bett. Ich schlief wie ein Stein. Als ich erwachte, war es bereits Mittag. Ich mußte an Heinz Derbacher und Dick de Kuyper denken. Beide hatten wirklich viel gemeinsam, so unterschiedlich sie äußerlich waren. Der eine vierschrötig, massiv, der andere zart, zerbrechlich. Aber beide waren sie hoffnungslose Träumer. Sie kamen mir vor wie ein spezielles Menschheitselixier. Wie eine körpergewordene uralte fixe Idee, die Wahnidee eines kollektiven Glücks, das alle zu wärmen vermag.
    Ich zog mich an, steckte die Kamera ein und ging hinunter in den hellen Tag. Er war wirklich sehr hell, wie in einem überbelichteten Experimentalfilm aus den fünfziger Jahren.
    Die Unfallstelle war inzwischen geräumt, die Feuerwehr verschwunden. Auch der LKW war weg, die beiden Stümpfe der Zapfsäulen waren mit Plastiksäcken versorgt.
    Ich hatte Hunger und ging in eines der Lokale am Marktplatz. Eine Pizzeria, die von sehr unitalienisch aussehenden Leuten betrieben wurde. Auf den Pizzen sah ich Scheiben von Thüringer Bratwurst. Ich bestellte einen Capuccino und einen großen Salat, der sich italienisch nannte. Er schien in einer Konservendose aufgewachsen zu sein und war gestorben unter einem Grabhügel von Mayonnaise.
    Mit einem Zoomobjektiv fotografierte ich das Schloß aus verschiedenen Perspektiven. Ein schönes Motiv. Giebel, Türme und Dächer wurden von einer fremden Sonne beschienen, deren Strahlen nicht bis hier unten ins Tal drangen.
    Ich benutzte die Kamera als Fernrohr, schwenkte sie über Fenster, Dachgauben, Türeingänge. Es schneite wieder.
    Plötzlich sah ich Heinz. Er kam die Straße herab, die zum Schloß führte. Eine Zeitlang war er hinter Häuserreihen verschwunden. Dann erschien er in der Passage, in der ich kurz nach meiner Ankunft einen Tee getrunken hatte.
    Warum war er so früh? Es war noch keine drei Uhr.
    Ich lehnte mich gegen ein Autodach, um die Kamera ruhig zu halten, und stellte scharf. Sein Gesicht wirkte angespannt, er ging schnell, rannte fast, und ich hatte Mühe, ihn im Blickfeld zu behalten.
    Plötzlich hatte ich eine Gruppe im Visier, vier junge Männer in Jeans und Bomberjacken. Sie gingen direkt auf Derbacher zu.
    Ich drehte das Zoomobjektiv auf größte Brennweite und stellte noch einmal scharf. Als sie damit anfingen, Derbacher anzurempeln,

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