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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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verständigen. Wir brauchen also, wenn wir den Feind in die Zange zwischen zwei Geschwader nehmen wollen, um ihn zu vernichten, zweimal acht Schiffe und schließlich noch ein siebzehntes zur Koordinierung der gesamten Flotte.«
    Der Kaiser klatschte sich vergnügt auf die Schenkel. »Tirpitz ist ein Genie des strategischen Denkens. Er würde sich auch zwischen zwei Frauen legen und dann eine dritte holen, um alles zu koordinieren.«
    Gelächter erscholl.
    »Aber im Ernst«, fuhr Wilhelm fort mit einer Stimme, die sich wieder auf normale Höhe und Lautstärke gesenkt hatte, »... wir werden das Kruppsche Stahlwunder auf Kiel legen, wir werden zeigen, daß der deutsche Adler Schwimmhäute zwischen den Krallen hat.«
    Diesem gelungenen Vergleich wurde augenblicks Beifall gezollt. »Und nun, nach getaner Arbeit, das Vergnügen, meine Herren.« Die letzte Äußerung des Kaisers ging fast unter in der Ausgelassenheit der Anwesenden. Sie sprangen auf, prosteten sich zu, schnappten Lachsschnitten, Kaviarbrötchen, während sich die Tür öffnete und eine Kapelle anmarschierte, die, noch im Marschieren begriffen, einen flotten Marsch zu spielen begann. Hinter ihr hüpften leichtbekleidete Mädchen herein, sie hatten pfirsichfarbene Trikots an, die die Brüste freiließen. Ich sah, daß Ines dabei war.
    Eine laute Stimme ertönte: »Und nun, meine Herren, als besondere Attraktion des Abends: General Graf Dietrich von Hülsen-Haeseler, Chef des Militärkabinetts!«
    Eine gutgebaute Mannsperson erschien. Sie hatte ein rosa Ballerinenröckchen an und war ansonsten vollkommen nackt. Sie verneigte sich tief, stellte sich auf die Zehenspitzen des einen Fußes, winkelte das andere Bein graziös an und begann zu tanzen, mit zurückgelegtem Kopf und nach oben in den Tabaksqualm sich rankenden Armen. Bei Pirouetten sah man das Geschlecht des Tänzers.
    Die Atmosphäre schien überzukochen. Die Anwesenden sprangen auf, schrien durcheinander, sangen, lachten johlend. Ines stand auf dem Tisch vor dem Kaiser, der seine Zigarette in den Fingern rollte und Rauchringe von sich blies. Sie begann, sich mit den traditionellen Schlangenbewegungen der professionellen Stripteasetänzerin weiter zu entkleiden.
    »Rechnet jemand mit der Anwesenheit englischer Spione an Bord?« fragte jemand. Es war ein Hüne, ein Klotz von Mann. Die dünnen Haare nach hinten aus der Denkerstirn gekämmt. Er nahm eine Hornbrille ab und putzte sie. In diesem Moment erkannte ich ihn, Doktor Vielbrunn.
    »Englische Spione? Ist eine solche Szene vorgesehen im Stück?« fragte Wilhelm II.
    »Die Idee ist nicht schlecht. Wir sollten die Wände abklopfen.«
    Der Kaiser sprang auf und ging auf Vielbrunn zu. Seine linke Hand zuckte vor und bohrte sich in dessen Bauch. »Ich habe eine bessere Idee. Singen Sie! Singen Sie uns ein schönes, deutsches Lied. Das vertreibt alle Sorgen.«
    »Die Situation ist gefährlich«, sagte Vielbrunn. »Dieser Holländer ist uns auf der Spur.«
    »Sie meinen den fliegenden? Ein guter Mann und Seeoffizier. Los, sing etwas, ein heiliges Lied, heiliger als alles andere, das gesungene Gedächtnis unserer Nation. Los doch, mehr Gischt, mehr Wind und Gesang.«
    Doktor Vielbrunn stellte sich in Positur. Seine mächtige Brust wölbte sich wie bei einem balzenden Vogel. Er begann:
    »Ich hatt’ einen Kameraden,
einen bessern findst du nicht...«
    »Halt ein, Idiot!« schrie Wilhelm außer sich. »Kein Kriegslied, ein heiliges Lied, ein Lied des Friedens, bitte. Es ist Weihnachten, begreifst du nicht, du Trottel?«
    Doktor Vielbrunn sang.
    »Stille Nacht,
heilige Nacht,
alles schläft,
einsam wacht.«
    Ich muß sagen, das Lied begann mich zu rühren. Es war wunderschön. Wirklich eine Hymne des Friedens, der Stille in all dem Lärm dieser Welt.
    Schläfti zupfte mich am Ärmel. Ich zog den Kopf zurück. »Komm«, sagte er. »Ich bin für einen geordneten Rückzug.«
    Den ganzen langen Weg zurück wurde ich die Bilder nicht los, die ich eben gesehen hatte. Es war wie nach einem Kinobesuch, wenn man ins Freie kommt und die Welt wie eine irreale Vision wirkt, unglaubwürdig, flächig, ohne die Dimension der Bewegung, ein angehaltenes Filmbild.
    Es schneite wieder. Die Flocken fielen so langsam, daß der Eindruck entstand, der Boden, auf dem wir standen, höbe sich dem Himmel entgegen.
    »Wir gehen ins Mitropa und tun so, als wär nichts gewesen«, sagte Schläfti.
    Auf dem Weg zum Bahnhof hielt ich vor einer Telefonzelle an. Diesmal kam ich durch. Ich

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