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Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chevy Stevens
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darin Zeremonien abgehalten. Strahlenförmig um ein Podest herum lagen Matten auf dem Fußboden, große Fenster an der Rückseite gaben den Blick auf einen Baum im Hof frei, der vom Wind gebeugt wurde. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Aaron dort stand, das Ende allen Leidens für immer versprach, wenn man nur seinen Lehren folgte. Dann stellte ich mir vor, wie er die Mitglieder dazu brachte, ihre Sünden zu beichten, malte mir aus, wie meine Tochter ihre dunkelsten Geheimnisse preisgab und vor diesem Mann ihre Seele entblößte, auf dass er sie in Stücke fetzte.
    Wir kamen an einem weiteren Raum vorbei, und mein Blick fiel auf niedrige Stühle, die sich um kleine Tische drängten, auf Kinderzeichnungen an den Wänden und eine Tafel. Das Klassenzimmer. Als wir das Ende des Flurs erreichten, wandte sich die junge Frau nach rechts und blieb vor einer Holztür stehen. Sie klopfte dreimal. Ein Mann rief mit tiefer, ruhiger Stimme: »Herein.« Es war Aaron.
    Die Frau trat ohne Umschweife ein, aber ich zögerte bei der Vorstellung, Aaron wiederzusehen. Dann empfand ich einen Anflug von Zorn darüber, wie klein und verletzlich mich dieser Mann mich fühlen ließ – und wie er mich vergewaltigt hatte.
    Aaron saß hinter einem riesigen Schreibtisch aus Zedernholz. Links und rechts von ihm standen Bücherregale, und direkt hinter ihm befand sich ein Fenster, das vermutlich einen unverbauten Blick über das Meer bot. Massive Balken aus Zedernholz stützten auch hier die Decke, und im Kamin brannte ein behagliches Feuer.
    Links befand sich eine weitere Tür, und ich fragte mich, ob sie wohl in sein Privatzimmer führte. Ich stellte mir junge Mädchen mit ihm zusammen dort drin vor, und allein bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Schließlich sah ich Aaron an, den Mann, um den meine Erinnerung jahrzehntelang einen großen Bogen gemacht hatte. Er musterte mich, die Hände in einer nachdenklichen Pose verschränkt, ein freundliches Lächeln im Gesicht, als würde er eine alte Bekannte willkommen heißen. Er trug einen marineblauen Sweater und eine große, teuer wirkende Armbanduhr. Er hatte einige Falten, sah aber gesund und gebräunt aus. Die Jahre standen ihm gut zu Gesicht.
    Die junge Frau sagte: »Ich lasse euch allein«, und schloss leise die Tür.
    Aaron stand auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Allein die Vorstellung, dass er sich drohend vor mir aufbauen könnte, genügte, und ich kam mir wieder wie ein Kind vor. Ich zwang mich, aufrecht zu stehen und rief mir in Erinnerung, dass ich nicht länger machtlos war, obgleich mir die Knie zitterten.
    »Nadine, wie schön, dass du mich besuchen kommst.«
    Bei seinen Worten und dem vertraulichen Tonfall drehte sich mir der Magen um.
    »Ich bin nicht hier, um dich zu besuchen. Ich bin hier, um nach meiner Tochter zu fragen.«
    Er nickte. Sein Blick schien mich durchbohren zu wollen. Ich zwang mich, den Augenkontakt aufrechtzuerhalten, und versuchte, nicht an die Dinge zu denken, zu denen er mich damals gezwungen hatte. An seine vom Flusswasser kalte und nasse Haut.
    »Ach ja, Lisa. Sie leistet ausgezeichnete Arbeit und findet ihren spirituellen Weg. Sie trägt eine große Wut mit sich herum …« Er schüttelte den Kopf.
    Eine Mischung aus Zorn und Panik durchschoss mich. Sie war also im Zentrum – und er wusste genau, dass sie meine Tochter war, was meinen Verdacht bestätigte, dass er es gezielt auf sie abgesehen hatte. Ich wollte ihm diesen selbstgefälligen Ausdruck aus dem Gesicht prügeln, dieses heitere Lächeln. Doch meine Tochter war hier, und wenn ich ihn verärgerte, würde er mir gar nichts erzählen.
    »Ich würde gerne mit ihr sprechen, bitte.«
    »Tut mir leid, aber das wäre nicht gut für sie. Im Moment konzentriert sie sich ganz auf ihre Heilung.«
    Eine erneute Woge des Zorns. »Wie wäre es, wenn wir ihr die Entscheidung überlassen?«
    »Lisa hat sich meiner spirituellen Leitung anvertraut.«
    »Ich bin ihre Mutter .«
    »Aber bist du die richtige Mutter für sie?« Der Schmerz warf mich beinahe zu Boden. Er sah mich zusammenzucken, sah meine Scham. »Ich bin sicher, dass du dich dasselbe gefragt hast. Wie konnte es passieren, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hat? Bei solchen Leuten lebt? Sie war völlig entmutigt.« Er schüttelte den Kopf. »So ein hübsches Mädchen, so viel Seele, und so viel Schmerz in sich.« Er klopfte sich auf die Brust. »Sie muss alles loslassen.«
    Eine übelkeitserregende Erinnerung überflutete mich. Seine

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