Blick in Die Angst
sprechen zu dürfen. Ihre Körpersprache war beinahe ehrerbietig, ihr Gesichtsausdruck zeigte Bewunderung.
»Nur zu«, sagte Aaron. »Du kannst ihr erzählen, was du mir heute Morgen erzählt hast.«
Jetzt sah Lisa mich an. Ihr Blick war voller Zorn, doch sie klang ruhig. »Es ist interessant, was ich hier alles über Meditation und den spirituellen Weg lerne. Ich bin viel ruhiger geworden, als sei dies genau der Ort, an dem ich sein soll, damit ich gesund werde.«
Ich betrachtete ihr Gesicht, suchte nach Anzeichen von Übermüdung oder Stress, aber sie wirkte tatsächlich ausgeruht und gesund. Ich war erleichtert, aber auch hin- und hergerissen. Ich hasste die Vorstellung, dass Aaron irgendeinen positiven Effekt auf sie hatte, aber ich musste zugegen, dass ich sie seit Jahren nicht mehr so aufgeräumt erlebt hatte.
»Lisa, ich bin froh, dass dir nichts fehlt.«
»Es geht mir gut. Mir gefällt es hier. Das hier sind jetzt meine Freunde.« Sie lächelte den in der Nähe stehenden Joseph an, der ihr Lächeln erwiderte. Doch etwas in seinen Zügen gefiel mir nicht, eine hektische Fiebrigkeit, die mich argwöhnen ließ, er könnte in einer manischen Phase stecken. Ich dachte daran, wie er hinter Mary kniete, an das Lächeln in seinem Gesicht, als sie dumpf schluchzte.
Ich unterdrückte die aufsteigende Angst. »Sie scheinen deine Freunde zu sein, aber wenn du nicht alles tust, was sie von dir wollen, werden sie sich gegen dich wenden.«
In Lisas Augen blitzte Zorn auf. Sie war immer noch die Alte, hatte ihr Temperament noch nicht verloren. Doch leider richtete sich ihr Zorn gegen mich. »Du bist bloß sauer, weil ich nicht tue, was du für richtig hältst. Ich bin hier glücklich . Aber du versuchst immer noch, mich zu kontrollieren. Glaubst du, deine Methode wäre so viel besser? Glaubst du, dein Haus wäre so sicher?«
»Mein Haus?« Wovon redete sie da?
Sie hielt kurz inne, schaute zu Aaron. Er nickte. »Wir haben doch besprochen, dass du, um deine negativen Denkmuster loszuwerden, alles aus deinem Leben teilen musst.«
Sie sah wieder zu mir. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Es war Garret, Mom.«
»Was war Garret?«
»Der, der mich missbraucht hat.«
Ich schnappte nach Luft. Nein, nicht Garret. Meine Gedanken überschlugen sich, als ich versuchte, ihre Worte zu begreifen, doch alles, was ich zustande brachte, war, sie anzustarren. Mein Herz raste wie unter Schock.
Lisa fuhr fort. »Es fing an, als ich dreizehn war. Du warst andauernd im Krankenhaus.« Sie sagte den letzten Teil nicht verbittert oder zornig, sondern wie besiegt. Ein Kind, das schon vor langer Zeit aufgehört hatte, nach der Mutter zu rufen, damit sie ihm half. »Vor ein paar Tagen hat er mich unten am Kai entdeckt, hat mir einen Kaffee gekauft und sagte, er wolle sich nur entschuldigen. Darum hatte ich eine Überdosis – er hat mir Drogen gegeben. Danach war ohnehin alles egal. Du hast ja sowieso geglaubt, ich wäre wieder drauf.« Ein wütendes Achselzucken.
Ich begann zu weinen. »Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Du hättest mich gezwungen, alles haarklein zu erzählen, aber ich wollte es nur vergessen.«
»Du kannst so etwas nicht ignorieren, Lisa. Du musst es verarbeiten.«
Sie hob die Hände. »Hör auf, hör bloß auf. Du hast mich immer gedrängt, über alles zu reden. Ich bin nicht wie du. Ich will nicht darüber reden.«
Aaron legte erneut die Hand auf ihren Nacken. Sie wandte sich zu ihm um.
Er sagte: »Es wird Zeit, deiner Mutter zu sagen, was du bei der Beichte geteilt hast.«
»Ich … ich tue es nicht. Ich bin noch nicht bereit.« Es war das erste Mal, dass ich sie zögern sah.
»Ich dachte, du wolltest dein Leiden beenden und ein neues Leben beginnen?« Er legte den Kopf schräg und warf ihr diesen enttäuschten Blick zu, den ich nur zu gut kannte.
»Ich mache es noch. Ich bin nur …« Sie begann, so heftig zu schluchzen, dass sie kaum atmen konnte. Noch nie hatte ich sie so weinen sehen. Ich trat vor, wollte sie vor alldem beschützen, wollte sie in den Arm nehmen. Aber sie machte einen Schritt von mir fort, wich vor mir zurück. Ich blieb stehen.
Aaron sagte: »Wenn du deine Wut auf deine Mutter loslassen und inneren Frieden finden willst, musst du dich von deiner Vergangenheit befreien.«
Lisa holte ein paarmal stockend Luft, versuchte sich zusammenzureißen, dann wandte sie sich mir zu. Unaufhörlich liefen ihr die Tränen übers Gesicht. »Ich war das mit dem Überfall. Ich habe dich in Nanaimo
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