Blick in Die Angst
nicht glauben, und wenn es zu einem Prozess käme, wäre es eine belastende Prozedur, die ihr Leben und ihre Ehe einem erheblichen Druck aussetzen würde. Das wusste ich nur allzu gut.
Jetzt, nachdem die Durchsuchung des Geländes nichts zutage gefördert hatte und Tammy sich weigerte, auszusagen, schwanden die Chancen, Aaron jemals vor Gericht zu bringen. Aber mir war wichtig, dass Tammy sich mit ihrer Entscheidung gut fühlte. »Tammy, ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss. Etwas gegen den Wunsch von uns nahestehenden Menschen zu unternehmen ist ausgesprochen schwierig. Aber manchmal müssen wir das tun, was sich für uns richtig anfühlt, selbst wenn es bedeutet, andere Menschen in unserem Leben zu verärgern. Ich respektiere Ihre Entscheidung, wie auch immer sie ausfallen mag, und hoffe nur, dass Sie das tun, was für Sie das Beste ist.«
Sie senkte die Stimme. »Ich muss Schluss machen.« Ich hörte gedämpfte Geräusche im Hintergrund, als würde jemand streiten. Eine laute Männerstimme und Tammys bittende.
»Tammy? Ist alles in Ordnung?«
Ein Mann antwortete mir. »Bleiben Sie von meiner Frau weg.«
Er legte auf.
Ich saß in meinem dunklen Wohnzimmer, das Herz hämmerte in meiner Brust, und mir schwindelte. Ich machte mir Sorgen um Tammy, aber ich hatte nichts gehört, weswegen ich die Polizei anrufen könnte, und wenn ich zurückrief, bekam sie womöglich nur noch mehr Ärger. Ich hoffte, dass es ihr gutging.
Als sich mein Herzschlag wieder halbwegs normalisiert hatte, überlegte ich meinen nächsten Schritt. Es gab noch eine weitere Person, bei der ich versuchen könnte, etwas zu erreichen. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mich zu beruhigen, dann wählte ich Daniels Nummer. Seit unserem letzten Gespräch waren ein paar Tage vergangen, und er hatte immer noch nicht mit irgendwelchen Neuigkeiten über Lisa angerufen. War er schon ins Zentrum zurückgegangen? Hatte er sein Handy überhaupt noch? Doch er ging beim zweiten Klingeln dran.
»Daniel, hier ist Nadine. Ich wollte nur mal nachfragen, ob es etwas Neues gibt.«
»Tut mir leid, aber der Job dauert länger als gedacht. Ich verspreche Ihnen, sobald ich wieder im Zentrum bin, suche ich nach Lisa und sage Ihnen Bescheid.«
Ich ließ meinen Kopf gegen die Rückenlehne des Sofas sinken. Tränen brannten in meinen Augen. »Danke.« Ich holte tief Luft. »Niemand, mit dem ich sonst gesprochen habe, konnte mir helfen.«
Er klang neugierig. »Mit wem haben Sie geredet?«
»Es gibt ein weiteres Opfer, dessen Familie noch im Zentrum lebt. Aber die Frau ist nicht bereit, mit der Polizei zu reden, und sie kann auch keinen Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen.«
»Wahrscheinlich weiß sie, dass man ihre Lügen entlarven wird. Wenn Sie jemals im Zentrum gewesen wären, würden Sie nichts von diesen Anschuldigungen glauben.« Er klang selbstsicher und stolz. »Aaron ist ein ausgezeichneter Lehrer. Sie kennen die Leute nur nicht.«
»Ich kenne sie, Daniel.«
Ich riss mich zusammen, ehe ich mehr ausplauderte, und hoffte, dass Daniel meinen Ausrutscher überhört hatte, aber er schwieg. Dann sagte er ganz langsam, als müsste er erst alle Teile zusammenfügen: »Moment … Sie waren mal Mitglied? Ist das der Grund …?«
Jetzt war es an mir, zu schweigen und zu überlegen, ob es eine gute Idee war, ihm mehr zu erzählen. Wie viel wollte ich ihm sagen? Doch dann tadelte ich mich selbst. Wie konnte ich erwarten, dass andere mir ihre Geschichten anvertrauten, wenn ich immer noch zu viel Angst hatte, meine eigene zu erzählen?
»Ich habe als Kind in der Kommune in Shawnigan gelebt, mit meiner Mutter und meinem Bruder.«
»Echt?« Er klang verblüfft und bestürzt. »Warum haben Sie das nicht vorher gesagt?«
»Es schien mir angesichts der Situation nicht angemessen.« Und war es immer noch nicht. Ich öffnete einem Rechtsstreit Tür und Tor, falls Daniel sich jemals entscheiden sollte, das Krankenhaus doch noch zu verklagen.
»Wenn Sie die Kommune kennen«, sagte er, »dann wissen Sie doch, dass das Zentrum nichts Böses im Schilde führt. Es sind gute Menschen.«
Ich hatte mich bereits aus meiner Deckung hervorgewagt, dann konnte ich genauso gut den ganzen Weg gehen. »Daniel, ich war eines von Aarons Opfern. Ich habe die Anzeige erstattet.«
Totenstille. Dann sagte er kalt und zornig: »Haben Sie Heather all diese Lügen erzählt? War sie deswegen so durcheinander? Was haben Sie ihr erzählt?«
Ich erkannte, welche gefährliche Richtung seine
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