Blick in Die Angst
überhaupt.
»Ich weiß, aber ich mache gerade eine Therapie, Hypnosetherapie, so dass ich …«
»Du lässt dich von irgend so einem Typen hypnotisieren?« Er hob eine Augenbraue, ein Feixen umspielte seine Mundwinkel.
»Es geht darum, vergrabene Erinnerungen aufzudecken, das ist völlig seriös. Der Therapeut glaubt, dass irgendetwas mit mir passiert ist, als wir dort lebten, und dass ich deshalb klaustrophobisch bin und bei Licht schlafen muss.«
»Du hattest schon immer tierische Angst im Dunkeln. Als du klein warst, musste ich dir zum Schlafen meine Taschenlampe geben.«
Jetzt erinnerte ich mich, wie Robbie sich eines Nachts in mein Zimmer geschlichen hatte, als ich geweint hatte. Er flüsterte: Was ist los? , und ich erzählte ihm, dass da böse Monster im Dunkeln lauerten.
»Aber es scheint schlimmer geworden zu sein, als wir wieder zurück waren.«
Er zuckte die Achseln. »Davon weiß ich nichts.«
»Denkst du noch manchmal an die Kommune?«, fragte ich.
»Eigentlich nicht.« Doch er zog erneut tief an der Zigarette und wandte den Blick ab.
»Erinnerst du dich an Willow?«
Er wurde blass und argwöhnisch. »Was ist mit ihr?«
»Es war so merkwürdig, wie sie gegangen ist. Hat sie sich von dir verabschiedet?«
Er schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, hat sie zu niemandem irgendetwas gesagt.«
»Findest du das nicht merkwürdig?«
»Nein. Sie wusste wahrscheinlich, dass die anderen ihr das Leben schwermachen würden.«
»Was meinst du, warum sie gegangen ist?«
Noch ein Achselzucken. »Wahrscheinlich hatte sie die Kommune satt und war es leid, vorgeschrieben zu bekommen, was sie tun und lassen sollte. Sie war ziemlich freiheitsliebend.«
»Aber sie hat ihre Sachen dagelassen …«
»Sie hat eine Tasche dagelassen.« Er klang verärgert. »Wahrscheinlich hat sie sie vergessen.«
»Ich dachte … Da gibt’s noch eine Sache, die mich wahnsinnig macht. Mom hat mir von irgendeinem Picknick erzählt, bei dem wir alle dabei waren, und dass Aaron mir das Schwimmen beigebracht hat, aber ich kann mich an nichts davon erinnern.«
»O Mann, es gibt massenweise Sachen aus der Zeit, als ich Kind war, an die ich mich nicht erinnere.« Er zog ein weiteres Mal tief an der Zigarette. »Du musst aufhören, dir von diesem Arzt im Kopf rumpfuschen zu lassen. Der redet dir deine Probleme doch erst ein.« Lachend stieß er den Zigarettenrauch aus. »Wenn du nicht schon vorher am Arsch warst, dann bist du es jetzt.«
Verwirrter als je zuvor fuhr ich an jenem Tag nach Hause und fragte mich, ob Robbie recht hatte – dass mein Therapeut versuchte, aus nichts ein Trauma zu machen. Eine Theorie, an die ich um so stärker zu glauben begann, da es ihm nie gelang, dieses Trauma zu entschlüsseln. Immerhin brachte er mir ein paar Techniken bei, um meine Klaustrophobie in den Griff zu bekommen, so dass ich schließlich ohne Licht schlafen konnte. Ich beendete die Therapie, und ich lebte mein Leben weiter.
Während der letzten beiden Jahre meines Studiums arbeitete ich Teilzeit in einer Veterinärklinik, verliebte mich in Paul und sah mich ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Ich hatte jetzt eine Familie, die Universität und das ewige Pendeln hielten mich auf Trab, aber meistens waren wir glücklich.
In den neunziger Jahren gerieten Therapien, die auf das Wiederbeleben alter Erinnerungen abzielten, in Verruf, und ich war überzeugter denn je, dass es in meiner Vergangenheit kein geheimnisvolles traumatisches Erlebnis gab. Doch hin und wieder, wenn meine Klaustrophobie wieder ausbrach, ausgelöst durch einen engen Raum, jemanden, der zu dicht neben mir stand, oder ein überfülltes Einkaufszentrum zur Weihnachtszeit, dachte ich wieder an die Sitzungen mit meinem Therapeuten. Hatte er womöglich doch recht gehabt? War in der Kommune doch irgendetwas Traumatisierendes geschehen? Ich schaffte es immer, die Zweifel beiseitezuschieben.
Jetzt erinnerte ich mich an etwas, was mein Therapeut noch gesagt hatte: Meine Psyche würde mich schützen, doch wenn ich dazu bereit wäre, würden die Erinnerungen zurückkehren. Sie könnten durch einen bestimmten Geruch, ein Foto, durch eine Stimme oder einen Satz ausgelöst werden.
Falls sie jetzt zurückkämen, war ich nicht sicher, ob ich dazu bereit sein würde.
10. Kapitel
An dem Tag, an dem Francine eingewiesen wurde, kam ich erschöpft nach Hause; erschöpft und verstört von den Erinnerungen, die an diesem Tag an die Oberfläche gekommen waren. Ich musste
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