Blick in Die Angst
nicht. Und ich freue mich, dass Sie anfangen, das zu erkennen.«
»Es ist schön, jemanden zu haben, der einem zuhört.« Sie lächelte. »Ich habe immer Emily zugehört, wenn sie durcheinander war. Wir mussten dann immer in den Stall gehen – sie liebt Pferde.«
»Das klingt, als wären Sie eine große Hilfe für sie gewesen.«
»Ich fühlte mich wie ihre große Schwester.« Sie schwieg nachdenklich. »Ich habe ihr gezeigt, wie man ohne Sattel reitet, und wir sind jeden Tag runter zum Fluss geritten, nur um zu reden.«
Als Heather den Weg hinunter zum Wasser beschrieb, drängten lebhafte Bilder und Geräusche in mein Bewusstsein – der Wald, in dem es selbst im Sommer kühl war, das Knarzen eines Sattels, der erdige Duft der Wälder und Pferde. Ich wurde in die Vergangenheit zurückgezogen.
Willow und ich reiten zusammen aus, ohne Sättel durch den Wald. Wir machen eine Pause, um die Tiere im Fluss trinken zu lassen. Sie steht neben mir, ihr Pferd schnüffelt an ihrer Schulter. Sie sagt: »Ich habe Aaron ein paarmal mit dir gesehen …« Ohne Vorwarnung pocht mein Herz bis in die Ohren, Panik schwemmt in mein Blut.
Sie redet weiter. »Ich habe gesehen, wie du mit ihm vom Fluss zurückgekommen bist. Du sahst ganz verstört aus. Wenn es irgendetwas gibt, über das du reden möchtest …«
Mein Herz schlägt jetzt so hart gegen meine Brust, dass ich kaum atmen kann. Scham, dick und heiß, drückt mich nieder.
Verstimmt sage ich: »Da gibt es nichts zu reden.«
»Wenn er dir weh getan hat …«
Aber ich wende mich bereits ab, erklimme einen Holzstamm, um auf den Rücken des Pferdes zu steigen. »Lass uns weiterreiten.«
Heathers Stimme holt mich wieder in die Gegenwart zurück. »Das ist einer der Gründe, warum ich überlege, zurückzugehen. Damit ich ihr helfen kann. Ich hoffe, es geht ihr gut.«
Ich schüttelte meine Erinnerung ab, doch die damit verbundenen Gefühle wollten nicht weichen. Vor Angst und Bestürzung krampfte sich mein Magen zusammen.
»Es geht ihr doch bestimmt gut, oder?«, sagte Heather.
»Es klingt, als würden Sie sich in gewisser Weise für Emily verantwortlich fühlen, aber sie ist eine erwachsene Frau und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Genau wie Sie sich entschieden haben zu gehen, können Sie sich jetzt entscheiden, Ihren Behandlungsplan einzuhalten und selbst wieder gesund zu werden.«
Sie nickte. »Ich weiß. Es geht mir schon besser. Ich spüre es bereits.«
Meine nächste Patientin war eine Frau Anfang siebzig namens Francine, die neu auf die Geschlossene eingewiesen worden war. Man hatte sie aufgegriffen, als sie im Nachthemd durch die Gegend spazierte. Die Diagnose lautete Demenz, und sie hatte keine Familie. Demenzpatienten sind schwierig zu behandeln, und wir können nur wenig für sie tun, aber zumeist müssen sie im Krankenhaus bleiben, bis ein Platz im Pflegeheim für sie gefunden ist. Sie sind verwirrt und verstört, weil sie ihre Erinnerungen verloren haben, und versuchen regelmäßig zu fliehen. Francine hatte den Tag damit zugebracht, umherzuwandern, an den Türen zu rütteln und jeden anzubetteln, sie gehen zu lassen. Sie verweigerte sich jeglichem Zuspruch, so dass wir sie einfach in Ruhe lassen mussten, bis sie sich von allein beruhigte. Als ich sie fragte, ob sie wüsste, warum sie im Krankenhaus war, lachte sie unbekümmert und sagte, sie würde ein Abenteuer erleben. Dann wechselte ihre Miene schlagartig, und sie sah mich traurig und verängstigt an. »Wo bin ich? Wann kann ich nach Hause?«
Behutsam erklärte ich: »Miss Hendrickson, Sie sind im Krankenhaus, weil Sie Schwierigkeiten haben, sich an Dinge zu erinnern, und wir nicht möchten, dass Ihnen etwas zustößt.«
Bestürzt sah sie sich im Behandlungszimmer um. »Ich bin im Krankenhaus?« Ihr Blick wurde plötzlich klar, als sie sich zu mir umdrehte und mich niedergeschlagen anschaute. »Ich komme nie wieder hier raus, nicht wahr?«
»Sie müssen nur noch ein Weilchen hierbleiben, während wir ein paar Tests mit Ihnen machen.«
Sie griff über den Tisch nach meiner Hand, ihre Miene hellte sich auf, und ihre Augen leuchteten. »Was hatte ich für ein Leben! Ich war Künstlerin und bin um die ganze Welt gereist, um zu malen. In jedem Land hatte ich Freunde. Ich kann Ihnen Geschichten erzählen, so viele Geschichten!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die in den tiefen Furchen ihres Gesichts versickerten. Ihr langes, verfilztes Haar lag wie ein weißer Rahmen um ihre Züge. Ihre
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