Blick in Die Angst
»Danke.«
Ich wartete auf eine Erklärung, aber sie sagte nichts weiter. Ich stellte ihr ein paar Fragen: Wie kam sie zurecht? Brauchte sie irgendetwas? Gab es etwas, über das sie reden wollte? Dachte sie manchmal daran, sich etwas anzutun?
Sie starrte nur auf ihre Füße und antwortete einsilbig, so dass wir die Sitzung an dieser Stelle beendeten. Sie trauerte, aber auf eine Weise, die ihrem jüngsten Verlust vollkommen angemessen war, und ich hegte die Hoffnung, dass die unterstützende Umgebung des Krankenhauses sie mit der Zeit an den Punkt zurückbringen würde, an dem sie zuvor war. Dann konnten wir mit der Behandlung fortfahren, so dass sie nach Hause und endlich mit ihrem Mann in die Flitterwochen fahren konnte. Als ich mich von ihr verabschiedete, fügte ich hinzu: »Aber ich möchte eine Postkarte von Ihrer Reise bekommen.«
Sie lächelte wehmütig und winkte mir kurz zu.
12. Kapitel
Nach der Arbeit fuhr ich nach Hause, zog meinen Overall an, steckte mein Haar zu einem lockeren Knoten hoch und arbeitete eine Weile in meinem Gartenschuppen. Normalerweise liebte ich das Schnipp-Schnapp meiner Gartenschere, im Takt zu Leonard Cohens Hallelujah im Hintergrund – das war meine Therapie. Doch heute liefen mir Tränen über die Wangen, als ich an Heather dachte, an meine Tochter, an Willow – an alle verlorenen Mädchen auf der Welt. Ich wischte mir übers Gesicht, hinterließ dabei einen Schmutzstreifen, und starrte auf den Bonsaibaum, den ich versucht hatte in Form zu schneiden. Ich gab auf und ging ins Haus, um zu duschen, aber zuerst warf ich einen Blick in die Kiste, die ich für die Katze unter die Treppe gestellt hatte. Die Decke war mit einem feinen Flaum schwarzer Haare bedeckt.
Nachdem ich eine Weile ferngesehen hatte, vertraute ich Connie am Telefon an, dass ich anfing, mich übermäßig mit Heathers Gefühlen zu identifizieren, wodurch es immer schwerer wurde, lediglich eine anteilnehmende Beobachterin zu bleiben. Bei ihr zu sein, kurz nachdem sie vom Tod ihrer Eltern erfahren hatte, hatte mich daran erinnert, wie qualvoll es gewesen war, Lisa zu erzählen, dass ihr Vater gestorben war. Als ich ins Bett ging, war ich wieder gelassener. Ich hatte Heather in den letzten Wochen liebgewonnen und war froh, dass es ihr besserging, aber es wäre gut für uns beide, wenn sie endlich entlassen würde.
Vor dem Einschlafen las ich noch ein wenig, dann machte ich das Licht aus. Mein Herz begann zu pochen, aber ich fuhr fort, mir selbst gut zuzureden – Alles ist gut, atme einfach weiter, das wird dich nicht umbringen –, bis das Panikgefühl nachließ. Obwohl es noch früh war, sank ich in einen tiefen Schlaf.
Zwei Dinge geschahen auf einmal: Es klapperte laut, als hätte jemand die Mülltonne umgestoßen, und das Telefon klingelte. Ich saß senkrecht in meinem Bett, mein Herz hämmerte gegen die Rippen, als ich versuchte herauszufinden, was passiert war. Ich hörte ein paar Katzen kreischen und begriff, dass sie sich zankten. Das Telefon schrillte erneut. Ich stellte das Licht an und griff nach dem schnurlosen Telefon auf meinem Nachttisch. Es war 21:45 Uhr.
Michelle war am Apparat. Sie versuchte, mir etwas mitzuteilen, brach jedoch mittendrin in Tränen aus. Immer noch halbverschlafen, war ich eine Sekunde lang ganz verwirrt, glaubte, meine größte Angst sei Wirklichkeit geworden und sie habe mich angerufen, um mir mitzuteilen, dass Lisa tot war.
Dann riss Michelle sich lange genug zusammen, um zu sagen: »Heather Simeon hat heute Abend Selbstmord begangen.« Das Blut rauschte in meinen Ohren, als Michelle versuchte, mir die grausame Szene zu beschreiben, doch sie brach immer wieder in Tränen aus, und ich schnappte lediglich Satzfetzen auf. »Überall war Blut … wir wussten nicht, dass sie im Abstellraum war. Ich habe Alarm geschlagen. Aber es war zu spät. Sie war bereits tot.«
»Was ist passiert? Wie konnte sie da hineinkommen?« Ich hörte selbst, wie schrill und angespannt meine Stimme klang, und versuchte, in dem, was ich hörte, einen Sinn zu erkennen.
Michelle beruhigte sich etwas, jetzt, wo ich ihr konkrete Fragen stellte, und berichtete, dass während des Abendessens unter den Patienten der Station ein heftiger Tumult ausgebrochen war. Das gesamte Personal war nötig gewesen, um die Situation in den Griff zu bekommen. Der Hausmeister war gerade dabei gewesen, seine Putzmittel aufzufüllen, als er zum Saubermachen in den Speisesaal gerufen wurde, wo einige Patienten mit Tabletts
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