Blick in Die Angst
erstickte Schluchzer ließen sie am ganzen Leib erbeben. Es fiel mir schwer, sie anzusehen, ohne selbst zu weinen, besonders, da ich an Lisa und Paul denken musste. An seinem Lebensende war Paul zu einem Schatten seiner selbst geworden. Es war furchtbar gewesen, ihn so zu sehen, und Lisa und ich verließen das Krankenhaus für gewöhnlich in Tränen aufgelöst. An dem Tag, an dem Paul starb, wollte Lisa nicht mit ins Krankenhaus. Ich hatte ihr erlaubt, eine Freundin zu besuchen, weil ich dachte, eine Pause würde ihr guttun. Doch Pauls Zustand hatte sich verschlechtert, und er starb in meinen Armen. Als ich es Lisa erzählte, schrie sie: »Ich habe mich nicht von ihm verabschiedet!«
Ich zwang mich, mich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren.
»Es ist völlig natürlich, dass Sie jetzt darüber nachgrübeln, was Sie hätten anders machen können, aber Sie trifft keine Schuld, Heather. Ihre Eltern hätten gewollt, dass Sie glücklich sind. Das Beste, was Sie jetzt für sie tun können, ist, Ihren Behandlungsplan weiterzuverfolgen und ein gutes Leben zu führen.«
»Ich dachte immer, dass mein Dad eines Tages stolz auf mich sein würde, sobald ich mich berappelt hätte, verstehen Sie? Darum ging es mir letzte Woche langsam wieder besser. Ich hatte überlegt, dass ich zur Uni gehen könnte, vielleicht Design studiere und einen guten Job bekomme und dass ich meinem Dad zeigen könnte, dass ich mit einem wunderbaren Mann verheiratet bin. Jetzt ist das alles sinnlos.«
»Das sind immer noch großartige Ziele, Heather. Machen Sie weiter, um Ihrer selbst willen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist sinnlos . Ich werde niemals glücklich sein.«
»Ich weiß, wie Sie sich im Moment fühlen, aber vertrauen Sie mir, Sie werden in Ihrem Leben wieder Glück empfinden, und es wird wieder besser werden. Sie müssen den Dingen nur etwas Zeit lassen.«
Sie starrte auf ihre Füße, die Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Es ist mir egal, ob es wieder besser wird. Ich will mich nur nie wieder so fühlen wie jetzt.«
Den Rest der Sitzung arbeitete ich daran, ihr zu versichern, dass der Schmerz vorübergehen würde, aber sie blieb mutlos und wollte zurück ins Bett. Schlaf war vermutlich im Moment das Beste für sie, so dass ich sie nicht zu sehr drängte. Am nächsten Tag war sie traurig, aber nicht mehr so lethargisch und depressiv wie bei ihrer Einlieferung ins Krankenhaus. Inzwischen war sie seit über drei Wochen bei uns und bekam die volle Dosis Antidepressivum, was ihr zu helfen schien, mit der Trauer fertig zu werden. Als ich sie fragte, ob sie manchmal daran denke, sich etwas anzutun, sagte sie nein, sie wiederholte es sogar und sah mir dabei in die Augen. Das war ein gutes Zeichen.
In den nächsten Tagen behielt man sie aufmerksam im Auge. Am Wochenende hatte ich frei, aber ich rief ein paarmal an und erkundigte mich nach ihr. Erleichtert hörte ich, dass sie sich ganz gut hielt. Obwohl sie offensichtlich um ihre Eltern trauerte, war sie bereit, aus ihrem Zimmer zu kommen und mit den anderen Patienten fernzusehen. Drei Tage nachdem wir ihr die schlechten Nachrichten überbracht hatten, nahm sie bereits an einer von Kevins Meditationsgruppen teil. Am Montag lief ich ihm zufällig zur Mittagszeit über den Weg.
»Ich war froh, dass Heather es heute in meine Gruppe geschafft hat«, sagte er. Neben psychologischen Tests, bei denen der Persönlichkeitstyp festgestellt wurde, sowie Intelligenztests bot Kevin auch Gruppen für Angstpatienten und Einzelsitzungen an.
»Ja, die Ärmste macht gerade eine Menge durch.«
»Allerdings, aber sie verarbeitet ihre Gefühle gut.«
Ich war froh um diese Bestätigung und entspannte mich ein wenig. Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr ich mich um sie gesorgt hatte. »Glauben Sie?«
»Wir haben uns nach der Stunde unterhalten, und sie hat sich bei mir bedankt. Sie sagte, es hätte geholfen.«
»Das ist wunderbar!«
Als ich Heather am nächsten Morgen sah, war sie zwar immer noch verhalten und sprach langsam, aber sie erzählte mir, dass Daniel am Nachmittag ein paar Urlaubskataloge mitbringen würde, weil sie noch keine Hochzeitsreise gemacht hatten.
»Ach, wie schön!«, sagte ich. »Vielleicht können Sie ein paar Fotos aufhängen von den Orten, die Sie gerne besuchen, und von Dingen, die Sie gerne tun würden. Eine Traumcollage.«
»Vielleicht.« Sie sah mich an. »Sie sind eine gute Ärztin.«
Der Kommentar traf mich unvorbereitet.
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