Blick in Die Angst
und Getränken um sich geworfen hatten. Den Abstellraum ließ er unversperrt. In der kurzen Zeitspanne von vielleicht fünfzehn Minuten hatte Heather den Abstellraum betreten, im Müllsack den Deckel einer Kaffeebüchse gefunden und sich damit die Pulsadern aufgeschnitten. Vielleicht hatte sie daran gedacht, dass sie beim letzten Versuch rechtzeitig gefunden worden war, denn sie schluckte zusätzlich noch Reinigungsmittel. Als ihr das immer noch nicht schnell genug ging und sie die Flüssigkeit wieder erbrach, zusammen mit Galle und Gewebefetzen ihrer verätzten Speiseröhre, stopfte sie sich Putzlumpen in die Kehle und erstickte schließlich daran. Das letzte verzweifelte Ringen ihres Körpers nach Luft wurde vom Kampflärm auf dem Flur übertönt.
»Es ging alles so schnell – und dann habe ich sie gefunden. Ich habe nur das Blut gesehen. Es war furchtbar.« Michelle Stimme wechselte von einem verzweifelten, schockierten Ton zu einer gedämpften und gespenstischen Entschlossenheit. »Ich werde diesen Raum nie wieder betreten.«
Sobald ich aufgelegt hatte, zog ich rasch etwas an und raste ins Krankenhaus, wo das Pflegepersonal immer noch versuchte, die Patienten zu beruhigen. Michelle saß bleich und zitternd im Stationszimmer, während eine andere Schwester ihr einen Becher Tee reichte. Bis der Coroner seine Erstuntersuchung abgeschlossen hatte, musste Heathers Leichnam im Abstellraum liegen bleiben. Die Tür zu der Kammer stand einen Spalt offen, und ich wollte nicht, dass jemand hineinspähte. Ich ging hin, um die Tür zu schließen, doch vorher fiel mein Blick auf das grausame Bild. Heather lag auf dem Boden, den Rücken noch an die Wand gelehnt. Ich sah ihre dünnen, blassen Beine und die Arme, die in die Seiten gestemmt waren wie bei einer kaputten Puppe. Ihr Kopf war zur Seite gekippt, so dass ich nur ihr Haar sehen konnte. Um ihre Handgelenke hatten sich Pfützen aus geronnenem, rotbraunem Blut gebildet, und mit den Füßen hatte sie einen Eimer umgestoßen. Ihr ganzes Nachthemd war blutverschmiert.
Dann wurde mein Blick von etwas an der Wand über ihrem Kopf angezogen. Unregelmäßig, mit Blut geschrieben, standen dort die Worte: Er schaut zu .
Hastig schloss ich die Tür.
Der Coroner befragte jeden, auch mich. Wie betäubt und den Kopf voller Gedanken ließ ich die Fragen über mich ergehen. Wie hatte das passieren können? Es würde eine gerichtliche Untersuchung und eine Überprüfung der Pflegequalität geben, wie immer, wenn es auf der Station einen Todesfall gab. Ich würde meine Versicherung anrufen müssen, und sie würden mich beraten, was ich sagen und wie ich es sagen sollte. In den folgenden Tagen würden auch einige Sitzungen Trauerbewältigung angeboten werden, aber das alles war mir im Moment egal.
Alles, woran ich denken konnte, war: Wie soll ich das Daniel beibringen? Ich hätte es ihm lieber persönlich gesagt, aber ich konnte nicht riskieren, dass er am Morgen ankam, ehe irgendjemand die Möglichkeit hatte, es ihm zu erzählen. Das Chaos auf der Station war immer noch zu groß, also ging ich hinüber zu meinem Büro beim Mental Health Service und zögerte den Moment so noch eine Weile hinaus. Dann saß ich an meinem Schreibtisch, starrte auf ein Foto von Lisa und dachte, dass zumindest Heathers Eltern dieser Anruf erspart blieb. Ich war betroffen, dass eine einzige Familie von so vielen Tragödien heimgesucht worden war. Unablässig ging ich meine letzte Unterhaltung mit Heather durch. Was war mir entgangen? Hatten meine eigenen Gefühle gegenüber der Kommune mich blind gemacht? Hätte ich sie doch an jemand anders abgeben sollen? Ich erinnerte mich, dass mir schon vor einigen Wochen aufgefallen war, dass die Tür zu einem der Abstellräume nicht abgeschlossen gewesen war, und dass ich gedacht hatte, ich sollte es einer der Schwestern gegenüber erwähnen. Doch dann hatte ich Aarons Namen gehört, und das hatte mich so aufgewühlt, dass ich es vergessen hatte. Wenn ich etwas gesagt hätte, würde Heather vielleicht noch leben.
Schließlich schlug ich Daniels Nummer nach, holte tief Luft und griff nach dem Hörer. Als ich wählte, stellte ich fest, dass meine Hand zitterte.
Seine Stimme klang belegt vom Schlaf, doch ich hörte auch einen Hauch Angst heraus. Er musste die Nummer des Krankenhauses auf seinem Display erkannt haben.
»Hallo, Daniel, hier ist Dr. Lavoie. Ich …« Mir fehlten die Worte, mein Kopf schmerzte, und ich war den Tränen nahe. Wie sollte ich ihm je sagen
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