Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blick in Die Angst

Blick in Die Angst

Titel: Blick in Die Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chevy Stevens
Vom Netzwerk:
ich für Sie anrufen kann?«
    Dieses Mal lag keine Wut in seiner Stimme. Er klang nur dumpf und niedergeschlagen, als er sagte: »Heather war alles, was ich hatte.« Dann legte er auf.

13. Kapitel
    Die nächsten Tage nahm ich wie durch einen Nebelschleier wahr, aber ich musste auf die Station, und ich brauchte den Rückhalt des Teams. Wir waren alle noch ganz mitgenommen von der Tragödie und hatten ein paar Supervisionssitzungen. Die meisten Krankenschwestern brachen irgendwann zusammen. Ein paarmal war ich selbst ganz nah dran. Die junge Frau, deren Zimmer direkt neben Heathers lag, hatte es besonders schwer. Jodi litt unter Anorexie und war mit weniger als fünfundvierzig Kilo extrem untergewichtig. Sie musste bei den Mahlzeiten unterstützt werden, sprich, eine Schwester musste neben ihr sitzen und mit ihr zusammen zu Mittag essen. Heather hatte sich mit Jodi angefreundet und hatte beim Essen ebenfalls bei ihr gesessen. Jetzt verweigerte Jodi erneut jede Nahrungsaufnahme.
    Vor allem für diejenigen Mitarbeiter, die Heather im Abstellraum gesehen hatten, war es schwer. Eine Schwester erzählte, dass sie Albträume wegen des ganzen Blutes hatte, das aus Heathers aufgeschnittenen Pulsadern stammte, und mir ging das Bild von Heathers Schrift an der Wand nicht aus dem Kopf: Er schaut zu . Kaum hatte ich die Worte gesehen, hatten sie sich in mein Gedächtnis eingebrannt – die roten Schlieren, der entsetzliche Anblick. Ich war so aufgewühlt von Heathers Tod, dass ich gar nicht die Gelegenheit gehabt hatte, über die Bedeutung der Worte nachzudenken. Jetzt blitzte aus der Dunkelheit eine kurze Erinnerung auf wie ein Schnappschuss: Aaron bei einer seiner spätabendlichen Belehrungen, umhüllt vom Duft des Lagerfeuers. Die Stimme erhoben zu einer leidenschaftlichen Warnung: Das Licht sieht alles, was wir tun. Er schaut uns immer zu. Wovon hatte er geredet? Ich beruhigte meinen Verstand, blendete die Stimmen um mich herum aus und konzentrierte mich auf diesen Moment. Mit einem Anflug schneidender Furcht stellte sich eine klarere Erinnerung ein.
    Ich verstecke mich unter einer Hütte und beobachte die Zeremonie, die nur für die Erwachsenen ist. Mit beiden Armen umklammere ich eine Katze. Josephs Gesicht leuchtet wütend im Schein des Feuers, als er einen Mann zu Boden schlägt, seine Stimme unterstreicht jeden Hieb. »Aaron hat dich gewarnt. Das Licht schaut immer zu – er weiß, was du getan hast.« Der Mann stöhnt und rollt sich in Embryonalstellung zusammen, während Aaron Joseph von ihm fortzieht. Die Mitglieder laufen herum, einige besorgt, andere aufgeregt – Haie, die Blut im Wasser wittern.
    Ich riss mich von der Erinnerung los, schüttelte die kalte Angst ab, die mir den Nacken emporkroch. Das war damals, dies hier ist heute. Du bist kein Kind mehr, und du bist in Sicherheit. Ich wandte meine Gedanken wieder dem vorliegenden Problem zu. Warum hatte Heather diese Worte geschrieben? Hatte es etwas mit ihren Schuldgefühlen zu tun, weil sie die Regeln und Lehren der Kommune missachtet hatte? Oder hatte Heather versucht, uns damit etwas anderes zu sagen? Einen kurzen Moment lang überlegte ich, ob jemand von der Kommune irgendwie auf die Station gelangt sein konnte. Nein, die Sicherheitsbestimmungen waren zu streng. Wahrscheinlich war mein erster Gedanke ganz richtig: Sie hatte ihre Schuldgefühle wegen der Fehlgeburt nicht länger ertragen, und wahrscheinlich auch geglaubt, sie sei irgendwie für den Tod ihrer Eltern verantwortlich. Wenn Aaron seinen Mitgliedern immer noch beibrachte, das Licht würde sie beobachten, konnte es gut sein, dass sie in ihrer Trauer das Gefühl hatte, diese Strafe verdient zu haben.
    Ich konzentrierte mich wieder auf das Meeting. Sie sprachen gerade über die Arbeitsabläufe und was wir hätten besser machen können. Ich dachte an die unverschlossene Tür, und erneut erfasste mich Reue. Ich war nicht die Einzige, die die Ereignisse immer wieder durchging.
    Michelle sagte: »Ich sehe ständig ihr Gesicht vor mir – und wie ihr Körper daliegt. Ich kann nicht schlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich … das.« Sie machte eine Handbewegung vor ihrem Gesicht, und alle füllten die Leerstelle in Gedanken aus: Die Verätzungen an Heathers Mund von den erbrochenen Reinigungsmitteln, die zu einer grotesken Grimasse verzogenen Lippen, die marmorierte Haut und die letzten Zipfel der Putzlumpen, die noch aus ihrem Mund hingen. Eine ganze Weile sagte niemand etwas. Ich

Weitere Kostenlose Bücher