Blick in Die Angst
gegenüber jemals zudringlich geworden wäre?«
Sie sah mich erneut an, die Hand immer noch unter einer Henne, die nach dem nackten Arm vor sich pickte. Mary zuckte nicht einmal zusammen.
»An so etwas kann ich mich nicht erinnern«, sagte sie. »Aber ich war damals erst zwanzig. Bin von meinen reichen Eltern weggelaufen, weil ich glaubte, ich hätte es so schwer.« Noch ein Lachen, das unvermittelt abbrach, als ein verbitterter Ausdruck über ihr Gesicht zog, als müsste sie gerade an etwas Schmerzhaftes denken. Ihr Tonfall änderte sich, die Stimme wurde tiefer. »Falls du vorhast, mit den Leuten über sie zu reden, solltest du besser vorsichtig sein.«
»Was, fürchtest du, könnte passieren?«
»Solche Leute mögen es gar nicht, wenn man die Dinge nicht so sieht wie sie selbst.«
Sie wusste also ebenfalls, dass Aaron noch eine andere Seite hatte. Ich fragte mich, was ihr wohl in der Kommune passiert sein mochte.
»Glaubst du, dass sie dem nachgehen, wenn jemand über sie redet?«
Mary antwortete nicht sofort, doch schließlich nickte sie stumm.
Hatte sie Angst vor einem Rechtsstreit? Oder fürchtete sie, die Mitglieder der Kommune könnten zu anderen Mitteln greifen, um potentielle Zeugen zum Schweigen zu bringen? Auf gar keinen Fall wollte ich, dass sie Angst hatte, mit mir zu sprechen.
»Ich kann verstehen, dass du dir vielleicht Sorgen machst, aber ich glaube nicht, dass er es riskieren würde, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – nicht im Moment.« Ich erzählte ihr von meinem eigenen Missbrauch und dass ich Anzeige erstattet hatte.
»Tut mir leid, dass er mit dir rumgemacht hat«, sagte sie, »aber das überrascht mich nicht. In der Kommune ging es fast nur um Sex und Drogen. Die Leute redeten sich ein, dass es okay ist, was sie tun, solange sie es im Namen von Love and Peace tun.«
»Ich glaube nicht, dass er jemals damit aufgehört hat, sondern sich nur immer neue Opfer sucht. Wir werden vielleicht niemals erfahren, wie viele Leben er im Laufe der Jahre zerstört hat.« Ich schwieg einen Moment. »Da war ein Mädchen, Willow. Ich versuche herauszufinden, was mit ihr passiert ist.«
»Willow? Ich dachte, sie wäre weggegangen?« Mary sah mich stirnrunzelnd an.
»Ja, aber ich wüsste gerne, was aus ihr geworden ist. Ich würde sie gerne einmal wiedersehen.« Ich behielt sie im Blick, um jede Änderung ihres Gesichtsausdrucks mitzubekommen.
Ihre Augen wurden schmal, als versuchte sie zu ergründen, worauf ich hinauswollte. Sie zog ihre Hand unter der Henne hervor und rieb sich die Stirn.
Ich sah auf ihre Hand. In diesem Moment stellte ich fest, dass ihr ein Finger fehlte. Sie folgte meinem Blick und riss die Hand zurück, ballte sie zur Faust und hielt sie schützend vor ihren Bauch.
Es war zu spät. Die Erinnerung überwältigte mich.
Es ist Nacht, nicht lange nach Willows Weggang. Ich bin wach und überlege, ob ich davonlaufen und sie suchen soll. Ich schleiche zur Tür hinaus und krieche im Schatten weiter, bis ich laute Stimmen höre. Joseph kniet hinter einer ebenfalls knienden, blonden Frau. Sie ist geknebelt, ihre Hand auf dem Hackblock festgebunden. Joseph hält eine Machete in der Hand. Man hört einen erstickten Schluchzer. Die Frau versucht, sich zu befreien, aber Joseph hält sie fest.
Aaron steht daneben und macht ein erschrockenes Gesicht. Ich kann nicht verstehen, was er sagt, aber er redet auf Joseph ein und streckt die Hand aus, als versuche er, seinen Bruder zu bewegen, ihm die Machete auszuhändigen. Joseph zögert, doch dann blickt er zum Himmel empor. Er sagte etwas in die Luft. Dann blitzt Metall auf, als Joseph die Machete anhebt und mit einem dumpfen Geräusch niedersausen lässt. Ich schlage mir rasch die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien, doch ein Stöhnen entweicht trotzdem. Aaron, der seinem Bruder endlich die Machete aus der Hand nimmt, während die Frau schluchzend zu ihren Füßen zusammensackt, hört es. Er kommt langsam auf mich zu, während ich mich in den Schatten zusammenkauere, doch das erstickte Weinen der Frau wird lauter, und er dreht sich um und flüsterte Joseph zu: »Bring sie zum Schweigen.«
Ich ducke mich tief und krieche in die Hütte zurück.
Am nächsten Morgen sehe ich am Lagerfeuer die Kampfspuren auf dem Boden, die dunklen Blutflecken. Bei unserer Frühstücksmeditation sitzt Cedar ganz allein. Sie spricht mit niemandem, ihre Hand ist in einem riesigen Verband verschwunden.
Meine Mutter flüstert: »Aaron sagt, sie sei mit der
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