Blick in Die Angst
mir nicht mehr ein. Die meisten von ihnen waren älter als ich, sechzehn oder siebzehn, und von zu Hause weggelaufen. Es gab auch jüngere, die mit ihren Familien dort waren, manche waren etwa elf oder zwölf und einige noch kleiner.
Dann blitzte ein weiteres Bild vor meinem geistigen Auge auf. Ein dünnes Mädchen mit langen Armen und Beinen. Wegen ihrer hellen Haare und dem dünnen Körper nannten ihre Eltern sie Dandelion, Löwenzahn, und wir kürzten es zu Danny. Sie war erst elf, aber keck und redete viel. Ich entsann mich vage, mich eines Tages mit ihr gestritten zu haben, und versuchte, mich genauer zu erinnern. Es schien im Spätsommer gewesen zu sein – und ich hatte das Gefühl, dass ich traurig gewesen war, also war Willow zu dem Zeitpunkt vielleicht schon fort. Mit aller Macht versuchte ich, mich zu konzentrieren. Es ging irgendwie um Aaron, er hatte Danny aufgefordert, ihm beim Beerenpflücken zu helfen, und ich wollte nicht, dass sie mit ihm ging. Hatte ich Angst um sie? Ein weiteres Bild blitzte kurz auf, dass sie mich eifersüchtig oder dumm nannte oder etwas in die Richtung, und anschließend davonrannte, zu Aaron. Weitere verschwommene Bilder folgten: Danny, wie sie mit selbstgefälliger Miene bei Aaron am Tisch sitzt. Ich war wegen irgendetwas verstört und verärgert, aber ich entsann mich auch an ein Gefühl der Erleichterung.
Jetzt, im Rückblick, wurde mir schlecht, als ich mich fragte, was sie durchgemacht haben musste, um sich dieses Privileg zu verdienen. War das der Grund, warum ich keine weiteren Erinnerungen an den Missbrauch hatte? Hatte Aaron mich in Ruhe gelassen, weil er ein neues Opfer gefunden hatte? Es war möglich, aber ich hatte trotzdem das Gefühl, ein Puzzleteilchen übersehen zu haben, etwas, das meine Klaustrophobie erklären würde. In jenem Sommer war noch mehr geschehen.
21. Kapitel
Fünf Minuten später hatte ich Marys Haus gefunden. Von den alten Zäunen um ihr Land blätterte die Farbe ab, darunter kam von der Sonne zu einem fahlen Grau gebleichtes Holz zum Vorschein. Über dem Eingangstor war ein verrostetes Metallsägeblatt angeschraubt, tiefe Reifenspuren zerfurchten den Boden. Das Tor stand offen, und ich fuhr langsam die Auffahrt hoch, als zwei Hunde, ein schwarzer Labrador und ein Schäferhund, bellend von der Rückseite des Hauses angerannt kamen. Das Bauchfell des Schäferhundes war nass und sandig. Als ich den Wagen abstellte, bemerkte ich den dichten Wald, der das Haus umgab, und das vertraute Brausen des Flusses in der Ferne. Ich stellte mir vor, wie der Schäferhund die Fährte eines Stück Wilds oder eines Fischotters verfolgte oder wie er am Flussufer Krebse anbellte.
Als ich aus dem Wagen stieg, kam eine Frau aus dem Haus und blieb auf der Veranda stehen. Das schneeweiße Haar trug sie zu einem langen Zopf geflochten vor ihrer Schulter. Rauch quoll aus dem Schornstein und hing angenehm duftend in der Luft. Die Frau trug eine Männer-Jeansjacke, die ihr ein paar Nummern zu groß und deren Fellkragen am Hals geschlossen war. Sie war blass, wirkte aber zäh und als würde sie sich oft im Freien aufhalten. Das Gesicht zeigte tiefe Falten. Sie hatte die Hände in die Taschen gestopft und beobachtete mich, als ich auf sie zukam. Die Hunde umkreisten mich knurrend, so dass ich ein paarmal stehen blieb, doch sie rief sie nicht zurück. Ich schob mich an den Tieren vorbei, ohne dass sie mir folgten. Der Schäferhund hatte einen Streifen aus Sand und Haaren an meinen Beinen hinterlassen. Als ich näher kam, musterte ich das Gesicht der Frau und versuchte, sie einzuordnen. Sie musste etwa Anfang sechzig sein. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, aber sie war einmal schön gewesen und sah immer noch sehr gut aus. Ihre Gesichtszüge waren ausgeprägt, die Wangenknochen hoch, und die Augen funkelten in einem hellen Grün.
Schließlich ergriff sie das Wort. »Kenne ich Sie?«
Es war keine Floskel, sondern eine ernsthafte Frage. Erkannte sie mich wieder?
»Ich bin mir nicht sicher. Deswegen bin ich hier, um es herauszufinden.« Ich lächelte freundlich, aber sie erwiderte die Geste nicht. »Ich habe eine Weile in der Kommune gelebt …«
Sie versteifte sich am ganzen Körper und stopfte die Hand, die sie nach einem der Hunde ausgestreckt hatte, wieder zurück in die Tasche. Ein Zeichen von Nervosität? Als sie meinen Blick bemerkte, wandte sie sich ab, sagte schroff: »Ich muss die Eier einsammeln«, und ging auf ein kleines Kabuff auf der Rückseite des
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