Blick in Die Angst
Hand in einen Pflug geraten, obwohl er sie gewarnt hat, vorsichtig zu sein. Jetzt hat sie beschlossen, eine Schweigemeditation zu machen und über ihre Entscheidung nachzudenken, damit sie aus ihrem Fehler lernen kann.«
Ich blicke erneut zu der Frau hinüber. Unsere Blicke treffen sich. Und halb verborgen in ihrem erkenne ich: Sie bereut nicht. Sie ist wütend.
Jetzt, Jahre später, sah ich denselben Ausdruck in Marys Blick. Ich sagte: »Joseph hat dir das angetan. Jetzt weiß ich es wieder. Aber ich weiß nicht, warum.«
Sie sagte nichts, sondern wandte sich nur ab und dem nächsten Huhn zu. »Du musst große Angst gehabt haben.«
Sie verharrte einen Moment, betrachtete die Eier in ihrem Korb, den sie mit der gesunden Hand festhielt. Woran dachte sie gerade? Schließlich sagte sie schroff und zornig: »Am Ende des Sommers wollte ich die Kommune verlassen. Eine Cousine von mir lebte in Kalifornien, und ich dachte, es würde bestimmt Spaß machen, sie da zu besuchen. Ich hatte es Aaron an jenem Abend erzählt, nachdem alle im Bett waren, aber Joseph hat uns gehört …«
»Joseph hat dir den Finger abgeschnitten, weil du weggehen wolltest?«
Sie nickte knapp. Ihre Halssehnen traten deutlich hervor. »Er sagte, er habe eine Vision gehabt. Mein Finger sei eine Schlange voller Gift, die meine Gedanken vergiftet.«
»Warum bist du nicht gegangen, nachdem er dich verletzt hat?«
»Aaron … er sagte, er brauche mich, dass wir jetzt eine Familie seien, und Familienangehörige verließen einander nicht.« Sie sah nachdenklich in den Korb. »Manchmal denke ich immer noch daran, wie schön er war, wenn er lächelte. Er konnte einen dazu bringen, alles zu glauben. Es war, als wäre ich die ganze Zeit über high gewesen, von allem, was er uns gab – der Meditation, dem Gras, dem Singen und Chanten, den Spaziergängen, all dem Sex und der Liebe … Es war, als würde man in einem Traum leben.«
»Warum bist du dann doch gegangen?«
»Nach Finns Tod war die Polizei auf uns aufmerksam geworden. Aaron gefiel das nicht. Als sie umzogen, schlug ich ihm vor, ich könnte hierbleiben und die Lage im Auge behalten. Dann hat er mich vergessen. Ich war nur eine unter vielen von seinen ganzen Frauen.« Keinerlei Verbitterung schwang in den Worten mit, sie klang ganz sachlich, vielleicht sogar eine Spur erleichtert.
»Hast du seitdem etwas von ihm gehört?«
»Nein, und so soll es auch bleiben.« Dieses Mal lag eine deutliche Warnung in ihrer Stimme. »Diese Zeit meines Lebens möchte ich lieber vergessen.«
»Das kann ich verstehen. Mir geht es genauso, aber ich hatte kürzlich eine Patientin …« Ohne irgendwelche Einzelheiten über Heather preiszugeben, erklärte ich, was mich dazu veranlasst hatte, mich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. »Es gibt immer junge Frauen in der Kommune, und ich befürchte, dass er so lange Leben ruinieren wird, bis wir einen Weg finden, ihn aufzuhalten.«
Sie sagte nichts, aber soweit ich ihr Gesicht erkennen konnte, als sie die letzten Eier einsammelte, wirkte es nachdenklich. Wie mochte ihr Leben verlaufen sein, seit sie die Kommune verlassen hatte?
»Hast du Kinder?«, fragte ich.
Sie schob die Hand unter eine Henne, die protestierend gackerte. »Ich habe einen Sohn.« Sie sagte es abwehrend – zweifellos sorgte sie sich, was ich mit dieser Information anfangen würde, aber ich hörte auch ihren Stolz heraus. Sie liebte ihren Sohn.
»Siehst du ihn oft?«
»Er reist viel herum, aber wir bleiben in Verbindung. Es gefällt ihm nicht, dass ich ganz allein hier draußen lebe. Aber so lebe ich seit mehr als vierzig Jahren – ich habe ihm gesagt, wenn irgendwann nur noch meine Leiche übrig ist, soll er mich im Misthaufen begraben.« Sie feixte.
»Das ist nett, dass er sich um dich sorgt. Ich habe eine Tochter, aber wir stehen uns nicht besonders nahe.« Ich hörte den krächzenden Unterton in meiner Stimme.
Mary hörte es auch und sah mich fragend an.
»Sie lebt in Victoria auf der Straße«, erklärte ich. »Ich mache mir Sorgen um sie.« Das war eine Untertreibung, aber mehr bekam ich bei dem plötzlichen Engegefühl in meiner Kehle nicht heraus.
»Die einzige Zeit, in der wir die Kontrolle über unsere Babys haben, ist die Zeit, wenn sie in unserem Bauch sind.« Sie sah mich verständnisvoll an. Zwei Mütter, die ihre Kinder vermissten.
»Das ist einer der Gründe, warum ich mir solche Sorgen wegen des Zentrums mache. Aaron nimmt Mädchen wie sie und nutzt ihre Gefühle aus.
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