Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
vorneweg beim Weihnachtsklau sind natürlich die Singapurer, die in der allchinesischen Welt sowieso am allerbesten kopieren. Als ich 2003 mein erstes Weihnachtsfest in Singapur verbrachte, kippte ich angesichts des Weihnachtsbombasts vor Ort fast aus meinen tropentauglichen Latschen. Die Haupteinkaufsstraße, die Orchard Road, war den ganzen November und Dezember hindurch so massiv illuminiert, dass dagegen der weihnachtliche Ku’damm, die Kö oder die Zeil an mit Kienspänen ausgefunzelte Hohlwege aus Zeiten erinnerten, als man in Europa noch Felle trug. Über der Straße hingen meterdicke bunte Christbaumkugeln, glitzernde Weihnachtssterne und Posaunenengel; dazu wurde die Orchard Road von einem gewaltigen Schwibbogen überspannt. In den Türmen, die ihn hielten, standen lebensgroße Spielzeugsoldaten, die ab und zu ein Stück marschierten, wobei sie in ihre Trompeten stießen. Zur Untermalung lief alles, was die internationale Weihnachtsdisco hergibt: «White Christmas», «Jingle Bells», «Frosty the Snowman», «Rudolph the Red-nosed Reindeer» und natürlich zehnminütlich der Slade-Klassiker «Merry Christmas Everybody». Dieses Musikprogramm ist auch in jeder Shopping-Mall und in jedem Supermarkt für mindestens drei Monate Pflicht.
In ihrem Weihnachtswahnsinn hatten die Singapurer es auf der Orchard Road sogar schneien lassen. Dabei liegt Singapur in den Tropen. Die tiefste hier je gemessene Temperatur lag am 31. 1. 1934 bei exakt 19,4 Grad Celsius. Normalerweise sind es auf der Tropeninsel zwischen sechsundzwanzig Grad in der Nacht und zweiunddreißig Grad tagsüber. Trotzdem schneit es in der Weihnachtszeit auf der Orchard Road, und zwar Seifenflocken, die aus föhnartigen Vorrichtungen auf die Straße rieseln. Auch vor der Tang Mall versinken jedes Jahr die Kinder in meterhohen Schaumbergen, was neben dem Weihnachtsspaß für die Kleinen den Vorteil hat, dass sie nach der «Schneeballschlacht» frisch gewaschen sind und wunderbar nach weißer Weihnacht riechen.
Als ewige Konkurrenten der Singapurer liegen die Hongkonger in puncto Weihnachtsirrsinn ungefähr gleichauf. Der einzige kleine Unterschied ist wohl, dass die Weihnachtszeit in der chinesischen Sonderverwaltungsregion noch etwas amerikanischer ausfällt. Als ich Weihnachten 2008 mal wieder in Hongkong weilte, hatte der US-Amerikaner Jim Marvin gerade zum sechsten Mal in Folge einige Shopping-Malls schmücken dürfen. Marvin dekoriert auch jedes Jahr das Weiße Haus in Washington zum Fest. Seltsamerweise lautete in Hongkong sein letztes Weihnachtsdekorationsthema der George-W.-Bush-Ära nicht «Nach mir die Sintflut», sondern «Eleganz trifft Natur» – wahrscheinlich voll frontal.
Auch die Malls, die Herr Marvin nicht in der Mache hatte, waren weihnachtsmäßig aufgerüstet. Im International Financial Centre stand ein vierstöckiges, mit zwanzigtausend Glühbirnen beleuchtetes Indoor-Riesenrad, der Platz vor der Harbour City Mall in Kowloon hatte sich in einen großen Weihnachtsbahnhof verwandelt, und im Pacific Place trat Ricky Baldwin auf, angeblich Amerikas berühmtester Weihnachtsmann, bekannt aus der US-amerikanischen Fernsehwerbung. Den Höhepunkt des Hongkonger Weihnachtsprogramms 2008 aber bildete sicher die Performance einer Gruppe von «authentischen» Cancantänzerinnen aus Paris, die in der Elements Mall das Thema «Passionate French X’mas» verkörperten. Seitdem wird wahrscheinlich in Hongkong geglaubt, Maria hätte im Stall von Bethlehem – oh, là, là! – Petticoat getragen. Immerhin verzichten die Hongkonger auf das künstliche Beschneien ihrer Innenstadt, vielleicht weil sie hier jedes Jahr auf eine echte weiße Weihnacht hoffen. Zwar liegt die Durchschnittstemperatur zu Weihnachten auch in Hongkong bei 19,4 Grad, aber immerhin ist in den letzten sechzig Jahren schon dreimal echter Schnee gefallen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass für die Hongkonger Weihnachten einfach ein heißeres Fest ist, zumindest für die hiesigen Teenager. Die haben nämlich den Heiligen Abend, der auf Mandarin «Ping an ye», Friedensnacht, heißt, in «Shi shen ye» umbenannt, was Jungfräulichkeitsverlusttag bedeutet. Angeblich ist genau dieser Tag der richtige, um zum ersten Mal im Leben Geschlechtsverkehr zu haben. Dabei kümmern sich die Teens offenbar nicht groß um Verhütung, denn ein paar Wochen nach Weihnachten klingelt das hiesige Schwangerschaftskrisentelefon besonders häufig. Möglicherweise glaubt man hier,
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