Blind vor Wut
praktisch ein Genie.«
»Praktisch, für’n Arsch«, widersprach ich. »Ich bin ein Genie, sagen jedenfalls alle IQ-Tests.«
»Und wie ist es im Bescheidenheits-Test gelaufen?«, fragte Josie und fuhr dann ernsthaft fort: »Ich freue mich für dich, Allen. Ich mag es, intelligente Menschen um mich zu haben.«
»Na ja, so groß kann ich mir das nicht auf die Fahnen schreiben«, erwiderte ich. »Die meisten wichtigen Dinge im Leben habe ich am Rockzipfel meiner Mutter gelernt.«
»Hm«, machte Josie. »Mal sehen. Ich schätze, ich soll jetzt sagen, dass deine Mutter ja eine fürchterlich kluge Person sein muss, und dann antwortest du, nein, aber sie trug fürchterlich kurze Röcke. Richtig?«
Ich lachte. Wir lachten beide. Dann fragte ich sie, was sie denn am Rockzipfel ihrer Mutter gelernt habe, doch Josies Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig.
»Meine Mutter ist tot, Allen. Sie starb, als ich noch ein kleines Mädchen war.«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Wenn du nach ihr kommst, muss sie sehr schön gewesen sein.«
»Danke. Nach den Fotos zu urteilen, war sie das auch, aber ich erinnere mich nur daran, dass sie krank war. Sie war sehr lange krank und ist schließlich unter Schmerzen gestorben.«
Ich nahm ihre Hand. So gingen wir den Schlackenweg am Fluss entlang; ich hütete meine Zunge und behielt die simple Wahrheit für mich: Wir alle sind sehr lange krank, sterben eines langen, schmerzvollen Todes, mein Stadium war schon weit fortgeschritten. Stattdessen schwieg ich. Es herrschte Frieden, und ein derart seltener Augenblick sollte nicht mutwillig verdorben werden.
Zu dieser Tageszeit war der Fluss vollkommen regungslos, weil die Gezeiten, die ihn erst in die eine, dann in die andere Richtung zwangen, gerade wechselten. Das war der eigentliche Grund, aber ich konnte mir noch einen anderen vorstellen. Die Bewegungslosigkeit war ein Zögern. Eine Pause, bevor der Fluss sich entschied, ob er noch eine Runde um Manhattan drehen oder den Tag beenden und ins Meer hinausfließen wollte.
Zu dieser Stunde war der Fluss also ein See, silbrig und still. Ein hübscher Spiegel für den Himmel und die Bäume und die zauberhafte Bogenbrücke über Hell Gate. Die dürre, die verwelkte Zeit war gekommen, doch noch immer zwitscherten die Vögel; und schon bald, jeden Augenblick, würde der gewandete Arm des Schicksals aus dem Wasser brechen und das Schwert Excalibur emporrecken, auf dass der König es ergreifen könne. Und im ganzen Land würden darob alle Waffen niedergelegt, und Brüder, gleich ob weiß, rot, gelb oder schwarz, würden aufhören, einander zu morden. Und auf immer würde die Liebe regieren.
»… wunderschön, Allen. Ach, war das schön. Kannst du mir das aufschreiben?«
»Was?«, fragte ich zurück. »Wovon redest du?«
»Von dem, was du gerade gesagt hast. Aber …«
»Vergiss es«, unterbrach ich sie. »Lässt Velie dich auch abends arbeiten?«
»Aber …« Josie sah mich neugierig die Stirn runzelnd an. »Na ja, manchmal muss ich nach dem Abendessen noch mal hin. Ein-, zweimal die Woche, dann und wann.«
»Ich kannte mal einen, der hatte seine Sekretärin die ganze Nacht bei sich. Für den Fall, dass ihm was einfiel und sie es aufschreiben musste.«
»Ich werde dich hier verlassen«, sagte sie leise. »Ich wohne da in dem Gebäude auf der anderen Straßenseite.«
Es handelte sich um ein dreigeschossiges, verklinkertes Gebäude. Hübscher als alles, was ich in der Gegend gesehen hatte, mal abgesehen von dem Mietshaus, in dem Mutter und ich wohnten. Soweit ich sehen konnte, gab es keine Souterrainwohnungen, obwohl doch die Hadleys mir erzählt hatten, Josie und ihr alter Herr würden in einer hausen.
»Irgendwann komme ich abends mal in der Schule vorbei und statte euch einen Besuch ab«, sagte ich. »Will mal sehen, was ihr beide, du und Velie, so treibt.«
»Du kannst nach Schulschluss nicht mehr ins Gebäude. Das kann keiner.«
»Nur Velie und du«, korrigierte ich. »Bespringt er dich im Stehen, oder legt er dich den Arsch voran auf einen Tisch?«
»Also, du gemeiner, dreckiger …! Ich sag Ihnen mal was, Mr. Allen Smith! Wenn ich jemals so etwas tun sollte, dann nur mit dem Mann, den ich heirate! Und noch etwas, ich rede in meinem ganzen Leben nie wieder mit Ihnen – und – ich sollte Ihnen eine Ohrfeige verpassen! «
»Warum lässt du das nicht deinen alten Herrn mit seinem Wischmop erledigen?«, entgegnete ich. »Ist er zu sehr damit beschäftigt, die Scheißhäuser zu
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