Blind vor Wut
sein können. Genauso bedeutungslos war es.
Zumindest für mich.
Nach einer ganzen Weile – Minuten für sie, Jahrhunderte für mich – gab ihr Körper nach, und ich hörte einen leisen, ekstatischen Seufzer. Und ich wusste, sie hatte erreicht, was mir verweigert worden war.
»Also gut«, sagte sie dann kühl, »wir haben uns geküsst und wieder versöhnt. Du bist doch nicht mehr wütend auf Mutter, oder?«
»Mutter«, stöhnte ich. »Mary, um Himmels willen …!«
»Du darfst deine Mutter nicht beim Vornamen nennen.« Ihre Stimme klang pedantisch. »Das gehört sich nicht.«
Na gut, sagte ich, sie habe ja gewonnen, verdammt. »Aber um Himmels willen, Ma… Mutter. Wenn du nur …«
»Diese Flucherei gehört sich auch nicht. Ich möchte dich ja wirklich glücklich machen« – mit sinnlicher Stimme –, »damit du dich vollkommen wohlfühlst, aber solange du fluchst und gemein bist und mich so hasst …«
Das würde ich nicht mehr tun, sagte ich. Ehrlich und wahrhaftig nicht. Ich würde alles tun, was sie wolle, wenn ich nur …
»Was willst du denn?«, unterbrach sie mich kühl. »Ich hoffe doch, es ist nicht das, was du anzudeuten scheinst.«
Ich würde nur wollen, was sie mir schon seit Jahren verspreche, entgegnete ich. Nicht mit Worten, aber in Taten. Ich hätte ein Anrecht darauf, verdammt. Denn wenn sie sich weiter so aufführen würde wie bisher – was sie alles tat, um mir ihre Verachtung und ihren Hass zu zeigen –, wenn sie das Schlimmste tun würde, was eine Frau einem Mann antun könne …
»Ich bin müde«, fiel sie mir ins Wort. »Sei so nett und geh bitte in dein Zimmer.«
»Den Teufel werde ich tun!«, rief ich. »Erst stellst du so etwas mit mir an, und dann sagst du, ich solle zu Bett gehen und …«
»Und du gehst. Weil Mutter … nun, vielleicht wird sie dir morgen Nacht etwas Hübsches geben, wenn du den ganzen Tag ein wirklich braver Junge bist und nichts tust, um sie zu ärgern.«
Ich ging hinüber in mein Bett.
Das war die letzte Drehung der Schraube. Der letzte Schlag mit der Peitsche des Folterers.
Hoffnung im Angesicht unausweichlicher Abweisung. Stets gab es Hoffnung für die nächste Nacht oder die darauf oder die folgende. Und ich wusste, dass jede dieser Nächte nichts als Enttäuschung bringen würde.
Am Morgen begleitete sie mich ein Stück auf dem Schulweg. Ab und zu schaute sie mich an und lächelte, oder sie packte meinen Ellbogen und drückte eine Brust dagegen.
»Bis heute Abend, hm?«, sagte sie und wollte in Richtung Stadt weitergehen. »Heute bist du Mutter zuliebe ein wirklich braver Junge, und vielleicht wird Mutter heute Nacht wirklich gut zu ihrem Jungen sein.«
Ich schüttelte den Kopf und machte mich von ihr los. »Gott«, sagte ich, »wie sehr du mich hassen musst!«
»Aber Schätzchen!«, schmollte sie. »Natürlich hasse ich dich nicht!«
»Fahr zur Hölle«, erklärte ich. »Fahr doch einfach zur Hölle!«
Ich stapfte weiter in Richtung Schule, ohne mich noch einmal umzusehen. Doch ihr Lachen verfolgte mich. Amüsiert, lockend. Hasserfüllt.
9.
Der Tempel der Bedeutungslosigkeit ist umgeben von einem hohen Turm aus Elfenbein, bewohnt von Trotteln, Spaßmachern, Zauberern, Psychopäderasten, mentalen Masturbationisten und Spundlochstechern, die jeden Morgen vor den Priestern der großen Göttin Vox populi knien, ihr Lob preisen, furzen, schnauben und zurückschrecken, bis der anrüchigste Gestank wie Parfum erscheint und der Geruch von Kot leicht mit dem Duft wilden Honigs zu verwechseln ist.
Der Tempel ist nur über eine einzige Treppe zu erreichen, so schmal und mit derart unregelmäßigen Stufen, dass nur jene, die mit ihren Proportionen willkürlich gewählte Maße treffen, sie erklimmen können. Des Weiteren sind die Seitenwände mit fotoelektrischen Zellen versehen, die all jene ausmustern, die nicht einer vorbestimmten Farbe oder Gesichtsform entsprechen; alle anderen werden von einer riesigen Herkulesstatue hinuntergestoßen, die eine mächtige Schaufel schwingt und so die Ausmistung des Augiasstalls nachspielt. Und selbst wenn man die Treppe erklommen und das Tor zur Bedeutungslosigkeit erreicht hat, kann einem noch immer der Zutritt verweigert werden. Denn vor jedem Eingang, den man durchschreiten oder vor dem man für immer alle Hoffnung fahren lassen muss, hockt eine der drei Schicksalsgöttinnen Lachesis, Klotho und Atropos, die nach ausgeklügeltem Plan sporadische Ströme reiner Säure pissen, und unter ihnen steht Hydra,
Weitere Kostenlose Bücher