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Blind vor Wut

Blind vor Wut

Titel: Blind vor Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Thompson
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Telefonzelle.
    Nun, da ich es wusste – sicher wusste –, schien es mir, als sei eine große Last von mir genommen worden. Ich kannte die Wahrheit, und die Wahrheit hatte mich befreit. War mein Magen zuvor bleiern gewesen, spürte ich nun umso größeren Appetit. Ich lechzte nach Essen, etwas, das das Dinner ersetzte, an dem ich nicht hatte teilnehmen dürfen, obwohl ich es gekocht hatte.
    Ich ging in ein Restaurant und bestellte; keinen Hamburger und kein Roastbeef wie sonst, wenn ich auswärts aß, sondern Brathähnchen. Brathähnchen mit Süßkartoffeln und Gemüse. Warum auch nicht?
    Warum sollte sich ein Schwarzer das Essen von Schwarzen vorenthalten?
    Warum sollte er Kuchen oder Pastete essen, wenn ihm nach Wassermelone war?
    Es gab keinen Grund, also enthielt ich es mir auch nicht vor. Ich aß zwei Stücke Wassermelone, meinen Lieblingsnachtisch, im Anschluss an das Brathähnchen und die Beilagen, mein Lieblingsessen.
    Meine Lieblingsspeisen, obwohl ich sie noch nie zuvor gegessen hatte.
    Es waren über zwei Stunden vergangen, seit ich die Wohnung verlassen hatte. Mutter und Velie hatten ihre zwei gemeinsamen Stunden gehabt plus einen Zuschlag von zwanzig Minuten. Ich hatte fleißig von der frischen Luft eingeatmet, die sie mir aufgezwungen hatten. Sie wiederum hatten fleißig herumgemacht. Zumindest hätten sie das tun sollen.
    Ein Pärchen, das es in zwei Stunden nicht schafft, schafft es nie.
    Dann hatten sie wohl nicht den Swing, und wie hieß es doch gleich: It don’t mean a thing, if you ain’t got that swing .
    Mutter kam in mein Zimmer, als ich mich gerade schlafen legen wollte. Sie wirkte ein wenig müde und kraftlos, hatte aber die Nachwirkungen des Alkohols völlig überwunden.
    »Fühlst du dich besser, Schatz?« Sie gähnte. »Hat sich dein Magen beruhigt?«
    »Na ja, ja und nein«, antwortete ich. »Genauer gesagt, nein und ja. Ich glaube, ich brauche noch mehr von der guten, sauberen frischen Luft, bevor ich ganz wiederhergestellt bin.«
    »Hmm.« Wieder gähnte sie. »Das ist gut.«
    »Du wirkst auch ein wenig abgekämpft«, bemerkte ich. »Vielleicht brauchst du auch mehr gute, saubere frische Luft. Warum nimmst du dir nicht Freitagnachmittag frei, und wir fahren zusammen aufs Land und machen ein Picknick?«
    »Tja …«, meinte sie zögernd. »Das müsste sich einrichten lassen. Wir könnten …« Sie unterbrach sich, offenbar war ihr etwas eingefallen. Ein diskreter Anruf vielleicht? »Ach, ich fürchte, ich kann doch nicht, Schätzchen. Freitagnachmittag habe ich ungeheuer viel zu tun.«
    »Wie schade«, meinte ich. »Aber erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen. Oder so.«
    »Vielleicht klappt es ja ein andermal.«
    »Ich glaube, ich gehe jetzt lieber schlafen«, sagte ich. »All die gute, saubere frische Luft hat mich müde gemacht.«
    »Tut mir leid«, sagte sie. »Weißt du, ich habe es Freitagnachmittag mit diesem ungeheuer empfindlichen Klienten zu tun. Er ist – ähm, na ja, er ist Jude – einer von denen, die immer auf der Suche nach einer Kränkung sind –, und wenn ich mich nicht krummlege und ihm jeden Wunsch erfülle …«
    »Das muss ja richtig hart für dich sein«, meinte ich, »dich krummzulegen. Na, sei nett zu ihm, vielleicht schiebt er dir ja eine koschere Salami rüber. Oder was Ähnliches.«
    Sie sah mich scharf an, doch Christus persönlich hätte nicht unschuldiger schauen können als ich. Also nickte sie mir Gute Nacht und zog sich in ihr Zimmer zurück, während ich mich schlafen legte. Nun war auch der letzte Zweifel verflogen. Alle unterbewusste Hoffnung, ich könne mich vielleicht irren, war für immer dahin. Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen, um mein Schluchzen zu ersticken.
    Ich weinte nicht lange. Ich hatte viel zu viel zu planen, zu viele Fäden in der Hand zu halten und zu einem Galgenstrick zu verknoten. Ich habe oben schon den Wunsch geäußert, die Welt möge ein einzelnes Arschloch haben, damit ich es mir vornehmen könnte, und nun war mein Wunsch in Erfüllung gegangen – wenn auch in kleinerem Maßstab. Die Welt hatte sich auf meine Welt verkleinert, auf den Randbereich, in dem ich mich bewegte, und das eine Arschloch wartete darauf, mich aufzunehmen.
    Keine Zeit für Tränen also.
    Wenn das Verlangen danach am größten ist, ist dafür nie Zeit.
    Und vielleicht ist dieses ach so traurige Paradoxon, dieses kosmische Zerrbild eines Scherzes, die eigentliche Hölle. Ein Ort des Zorns und der Schande, an dem uns niemals erlaubt ist,

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