Blind vor Wut
Zeit …
Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und setzte mich auf.
Es war Zeit zu gehen und die Wahrheit zu erfahren, ganz gleich, welcher Art sie auch sein mochte.
Ich wusch mir das Gesicht und kämmte mir die Haare. Ich ging in unsere Wohnung und sagte Liz, dass ich für eine Weile fort sei.
»Ja«, sagte sie, »Dokta«, dann korrigierte sie sich schnell und sagte: »Jawohl, Doktor.«
»Nenn mich Steve, Liz«, erklärte ich. »Steve und Liz. So haben wir uns früher immer genannt.«
»Haben wir?« Sie sah mich verwirrt an. »Hm-hm, stimmt wohl. Ich altes Dummerchen hab das schon fast vergessen, schätz ich.«
Ich zuckte zusammen und wendete kurz den Blick ab. Dann nahm ich sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. »Ich liebe dich, Liz«, sagte ich. »Und – es tut mir leid. Ich muss jetzt los, aber …«
Ich wandte mich schnell ab und ging zur Tür hinaus. Es gab viele Dinge, die ich wiedergutzumachen hatte, doch jetzt war nicht der Augenblick, darüber nachzudenken. Ich musste meinen Verstand freihalten für das, was vor mir lag, musste mich gegen das ungeheure Grauen wappnen. Denn ich hegte keinen Zweifel mehr daran, dass ich etwas Schreckliches entdecken würde. Und ich wusste, wie viel ich selber dazu beigetragen hatte.
Ihnen, meinen Kindern, war beigebracht worden, die eigene Mutter zu verachten. Ich hatte ihnen als leuchtendes Vorbild gedient, dem sie folgen sollten. Sie waren so verwirrt und ohne Maßstäbe gewesen wie ich, und nun musste ich mich dem Abgrund stellen, vor dem ich stand.
Nicht dass ich sie entschuldigen wollte: Meine eigenen Eltern waren mir auch kaum jemals Vorbilder gewesen; doch durch den blanken Prozess der Evolution sollten wir Nachfolgenden stets besser sein als die, die uns vorangingen.
Steves Wagen, der, in dem er und Lizbeth umherfuhren, stand auf dem Schotterparkplatz des Motels. Ich parkte meinen Wagen ebenfalls und betrat das Empfangsbüro.
Ein Mann in Hemdsärmeln legte die Zeitung fort, in der er las, und schlich zum Tresen. »Ja?«, fragte er.
»Nummer 6«, sagte ich. »Ich möchte den Schlüssel haben.«
»Allen Smith, hm?« Er besah mich von oben bis unten. »Hab mit jemand Jüngerem gerechnet, aber wenn sie das erträgt, kann ich das auch.«
»Der Schlüssel«, mahnte ich.
»Sicher, sicher.« Zwinkernd gab er ihn mir. »Hören Sie, vier ist doch ’ne hübsche runde Zahl, wie wär’s, wenn ich die Reihen schließe? Bei allem, was die Puppe so zu bieten hat, wird sie das schon verkraften.«
»Das würde ihrem Vater nicht gefallen«, antwortete ich. »Tatsächlich ist er in diesem Augenblick kurz davor, Sie umzubringen.«
»Ach, kommen Sie. Was ist denn schon dabei, wenn – he !« Er starrte mich maulaffig an. »Wer zum Teufel sind Sie?«
Ich zog meine Brieftasche hervor und zeigte ihm meinen Ausweis. Ich sei der Vater des Jungen und des Mädchens in Nummer 6.
»Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich mit Ihnen machen werde«, fuhr ich fort. »Aber es wird etwas Drastisches sein – Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich die Erlaubnis habe, eine Waffe zu tragen – und von der werde ich auf der Stelle Gebrauch machen, falls Sie nicht genau das tun, was ich sage.«
Er nickte zitternd, und sein unrasiertes Gesicht war blass vor Angst. »J-ja, Sir, Doktor, j-ja, S-sir. Ich … ich … ich hab das nicht gewusst, ehrlich! Sie haben sich als Mann und Frau eingetragen, und …«
»Halten Sie den Mund, und hören Sie zu!«, befahl ich. »Sie werden nichts unternehmen, um sie zu warnen. Sie verlieren kein Wort darüber, dass ich hier bin, weder jetzt noch später. Wenn doch, nun, ich glaube nicht, dass ich Sie umbringen müsste. Diese Kinder sind noch minderjährig, und auf Beihilfe zur Vergewaltigung Minderjähriger stehen sehr hohe Strafen.«
Die Beteuerungen, ganz sicher seinen Mund zu hal ten, purzelten nur so aus ihm heraus. »Ehrlich, Doc, ganz bestimmt! Es war wirklich nicht meine Schuld. Ich sag die Wahrheit, ehrlich …«
»Ehrlich!«, erwiderte ich. »Um Gottes willen!«
Ich verließ das Büro, während er noch immer wie wild flehte, und schloss ganz, ganz leise die Tür. Ich hatte natürlich nicht vor, irgendetwas gegen ihn zu unternehmen. Der Skandal wäre zu groß gewesen. Vielleicht müsste ich tatsächlich handeln, zum Schutz anderer Kinder und ihrer Eltern, doch ich bin nicht ohne Fehler – trotz all meiner Heuchelei in dieser Richtung –, und ich glaube kaum, dass ich jemals mehr als leichte Verbesserungen meiner charakterlichen
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