Blind
erschießen. Und Jude dachte an die Waffen, die er schon besessen hatte, und die Hunde, die er besessen hatte, dachte daran, wie er barfuß mit den Hunden über die hügeligen Felder hinter der Farm seines Vaters gestreunt war, an den Kitzel, wenn er mit den Hunden in der Morgendämmerung unterwegs gewesen war, dachte an das Krachen der Schrotflinte seines Vater, wenn er auf Enten geschossen hatte, dachte daran, wie er als Neunjähriger zusammen mit seiner Mutter von zu Hause weggelaufen war, wie seine Mutter am Greyhound-Busbahnhof der Mut verlassen und sie ihre Eltern angerufen hatte, wie sie sie angefleht hatte und ihre Eltern gesagt hatten, sie solle mit dem Jungen zurückgehen, solle versuchen, Frieden zu machen, Frieden mit ihrem Mann und mit Gott, und wie sein Vater mit der Schrotflinte in der Hand auf der Veranda gewartet hatte, wie er ihr den Gewehrschaft ins Gesicht gerammt und dann den Lauf auf ihre linke Brust gesetzt und gesagt hatte, wenn sie noch einmal wegzulaufen versuche, dann werde er sie umbringen, und dass sie danach nie wieder weggelaufen war. Und er dachte daran, dass er damals, als er noch Justin gewesen war, an seinem Vater vorbei ins Haus gehen wollte und dass sein Vater ihn am Arm gefasst, an sein Bein gedrückt und gesagt hatte: »Ich bin dir nicht böse, Junge, es ist nicht deine Schuld.« Dass er sich dann zu ihm heruntergebeugt und gesagt hatte, dass er ihn liebe, und Justin automatisch geantwortet hatte, dass er ihn auch liebe. Das war eine Erinnerung, bei der Jude noch heute zusammenzuckte, eine moralisch widerwärtige Tat, eine Tat, deren er sich so geschämt hatte, dass er es nicht ertragen konnte, die Person zu sein, die das getanhatte, sodass er schließlich jemand anders werden musste. War das das Schlimmste, was er je getan hatte, dass er seinem Vater diesen Judaskuss auf die Backe gegeben hatte, während seine Mutter blutete, dass er die wertlose Münze der Liebe seines Vaters angenommen hatte? Nicht schlimmer, als Anna weggeschickt zu haben. Und damit war er wieder am Anfang und fragte sich, was er wohl morgen früh tun würde, ob er, wenn nötig, Annas Schwester dazu bringen konnte, in seinen Wagen zu steigen und mit ihm irgendwohin zu fahren, wo er das tun konnte, was nötig war, damit sie redete.
Obwohl es im Wagen nicht heiß war, musste er sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn wischen, sonst wäre er ihm in die Augen gelaufen. Er behielt das Haus und die Straße im Blick. Einmal fuhr ein Streifenwagen vorbei. Der Mustang stand jedoch so gut versteckt im Dunkel der halb fertigen Garage, dass die Streife, ohne abzubremsen, an ihnen vorbeiglitt.
Georgia lag neben ihm auf dem zurückgekippten Sitz und schlief. Ihr Gesicht war dem Fenster zugewandt. Kurz nach zwei fing sie an, im Schlaf gegen irgendetwas zu kämpfen. Die rechte Hand fuhr in die Luft wie bei einer Schülerin, die ihren Lehrer auf sich aufmerksam machen wollte. Sie hatte die Hand nicht wieder verbunden. Sie war weiß und runzelig. Weiß, runzelig, grässlich. Sie schlug in die Luft und stöhnte, ein unterwürfiges Röcheln des Entsetzens. Sie warf den Kopf hin und her.
Er beugte sich über sie und sagte ihren Namen, fasste sie sanft, aber fest an der Schulter und rüttelte sie wach. Sie riss die Augen auf und schaute ihn ohne ein Zeichen des Erkennens mit blindem Entsetzen an, und er wusste, dass sie ein paar Augenblicke lang nicht sein Gesicht, sondern das des toten Mannes sah.
»Marybeth«, sagte er noch einmal. »Du hast geträumt. Psch. Es ist alles in Ordnung. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.«
Der Nebel vor ihren Augen zerriss. Die Anspannung ließ nach, ihr verkrampfter, steifer Körper sackte in sich zusammen. Sie schnappte nach Luft. Er strich ein paar Haarsträhnen zur Seite, die auf ihrer verschwitzten Wange klebten, und erschrak über die Hitze, die sie verströmte.
»Durst«, sagte sie.
Er griff nach hinten in die Plastiktüte voller Lebensmittel, die sie an einer Tankstelle gekauft hatten, und zog eine Flasche Wasser heraus. Georgia schraubte den Verschluss ab und trank in vier großen Schlucken ein Drittel der Flasche aus.
»Was, wenn uns Annas Schwester nicht weiterhelfen kann?«, fragte Georgia dann. »Wenn sie es nicht schafft, dass er uns in Ruhe lässt? Willst du sie umbringen, wenn sie uns Craddock nicht vom Leib halten kann?«
»Warum schläfst du nicht noch ein bisschen? Wir müssen sowieso noch eine Zeit lang warten.«
»Ich will niemanden umbringen, Jude. Ich will
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