Blind
nicht in den letzten Stunden, die ich noch lebe, einen Mord begehen.«
»Das sind nicht deine letzten Stunden«, sagte er. Absichtlich schloss er sich selbst in diese Aussage nicht mit ein.
»Ich will auch nicht, dass du jemanden umbringst. Außerdem hätten wir dann zwei Geister, die hinter uns her sind. Noch einen Geist mehr könnte ich nicht ertragen.«
»Soll ich das Radio anmachen?«
»Versprich mir, dass du sie nicht umbringst, Jude. Egal, was passiert.«
Er stellte das Radio an. Ganz links auf der UKW-Skala fand er die Foo Fighters. David Grohl sang, dass er dranbleiben, dass er sich nicht abschütteln lassen würde. Jude drehte die Lautstärke so weit herunter, bis nur noch ein schwaches Rauschen zu hören war.
»Marybeth«, begann er.
Sie zitterte kurz.
»Alles in Ordnung?«
»Ich mag es, wenn du meinen richtigen Namen sagst. Sag nie wieder Georgia zu mir, okay?«
»Okay.«
»Ich wollte, du hättest mich nicht damals zum ersten Mal gesehen, als ich mich vor einer Bande von Besoffenen ausgezogen habe. Ich wollte, wir hätten uns nicht in einem Stripladen kennengelernt. Ich wollte, du hättest mich gekannt, bevor ich damit angefangen habe. Bevor ich so geworden bin, wie ich jetzt bin. Bevor ich all die Sachen gemacht hab, die ich am liebsten ungeschehen machen würde.«
»Du weißt doch, die Menschen zahlen gern etwas mehr für Möbel, die schon eine kleine Delle haben, die schon etwas angeschlagen sind. Sachen, die schon ein bisschen was hinter sich haben, sind einfach interessanter als brandneues Zeug, auf dem nicht der geringste Kratzer zu sehen ist.«
»Das passt auf mich«, sagte sie. »Verführerisch angeschlagen.« Das Zittern fing wieder an, hörte diesmal aber nicht wieder auf.
»Geht's?«
»Geht schon«, sagte sie, wobei ihre Stimme so zitterte wie der ganze Körper.
Sie hörten der Musik zu, die durch das leise atmosphärische Rauschen drang. Jude spürte, wie er sich wieder beruhigte und einen klaren Kopf bekam, wie verkrampfte Muskeln, die er vorher nie wahrgenommen hatte, sich wieder lockerten und entspannten. Für den Augenblick spielt es keine Rolle, was vor ihnen lag oder was sie würden tun müssen, wenn der Morgen anbrach. Es spielte auch keine Rolle, was hinter ihnen lag – die tagelange Fahrt oder Craddock McDermotts Geist mit seinem alten Pick-up und den kritzeligen Flecken vorden Augen. Jude war irgendwo im Süden, lag auf dem zurückgekippten Sitz seines Mustangs und hörte Aerosmith.
Und dann musste Marybeth alles verderben.
»Auch wenn ich sterbe, Jude, du bleibst am Leben«, sagte sie. »Ich versuche ihn aufzuhalten. Von der anderen Seite.«
»Was redest du da? Du stirbst nicht.«
»Ich weiß, ich sag ja nur. Wenn die Sache nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen. Ich finde Anna, und wir beiden Chicks versuchen dann zusammen, ihn aufzuhalten.«
»Du wirst nicht sterben. Ich pfeif drauf, was das Ouija-Brett erzählt oder Anna dir in dem Spiegel gezeigt hat.« Genau das hatte er vor ein paar Stunden, als sie noch unterwegs gewesen waren, für sich entschieden.
Marybeth runzelte nachdenklich die Stirn. »Als sie angefangen hat, zu uns zu sprechen, ist es sofort kalt im Zimmer geworden. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu zittern. Ich hab nicht mal mehr meine Hand auf dem Zeiger gespürt. Und dann hast du Anna was gefragt, und ich hab sofort die Antwort gewusst. Das, was sie uns sagen wollte. Ich hab keine Stimmen gehört oder so. Ich hab's einfach gewusst. Da ist mir das total logisch vorgekommen, jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, was sie wollte, dass ich es tue, oder was das mit der Tür zu bedeuten hat, die ich sein soll. Außer … Ich glaube, sie hat gesagt, wenn Craddock zurückkommen kann, dass sie das dann auch kann. Mit ein bisschen Hilfe. Und ich kann ihr irgendwie dabei helfen. Nur dass ich dafür, und daran erinnere ich mich noch klar und deutlich, dass ich dafür vielleicht sterben muss.«
»Du wirst nicht sterben. Nicht wenn ich ein Wörtchen mitzureden habe.«
Sie lächelte. Es war ein müdes Lächeln. »Aber du hast kein Wörtchen mitzureden.«
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Noch nicht. Eine Möglichkeit, ihre Sicherheit zu garantieren, war ihm schon durch den Kopf gegangen, aber er war noch nicht so weit, sie in Worte zu fassen. Wenn ersterben würde, dann würde Craddock sich zurückziehen, und Marybeth könnte weiterleben. Wenn Craddock nur ihn wollte, hatte er gedacht, dann könnte er sich vielleicht nur so
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