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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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lange in dieser Welt aufhalten, wie Jude noch am Leben war. Schließlich hatte Jude ihn gekauft, hatte dafür bezahlt, ihn und seinen Totenanzug zu besitzen. Craddock hatte den Großteil der Woche darauf verwendet, Jude dazu zu bringen, sich selbst umzubringen. Jude war so davon in Anspruch genommen gewesen, sich zu wehren, dass er sich nicht gefragt hatte, ob der Preis des Überlebens nicht vielleicht höher war, als wenn er dem toten Mann gab, was er wollte. Er würde sicher den Kürzeren ziehen, hatte er gedacht, und je länger er sich gegen Craddock wehrte, desto wahrscheinlicher war es, dass er Marybeth mit sich reißen würde. Denn die Toten ziehen die Lebenden nach unten.
    Marybeth schaute ihn an. Im Dunkeln sahen ihre Augen aus wie feuchte, wunderschöne Tinte. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. Sie war sehr jung und sehr schön. Auf ihrer Stirn glänzte fiebriger Schweiß. Der Gedanke, dass sie früher sterben sollte als er, war schlimmer als unerträglich, er war obszön.
    Er rutschte näher an sie heran und nahm ihre beiden Hände. So wie ihre Stirn feucht und zu warm war, so waren ihre Hände feucht und zu kalt. Er drehte sie um. Was er im Halbdunkel sah, war widerwärtig und schockierend. Beide Hände, nicht nur die rechte, waren aufgedunsen, weiß und verschrumpelt – obwohl die rechte Hand scheußlicher aussah: die Vorderseite des Daumens glänzend, verwest, der Daumennagel abgefallen. Über die Innenseiten beider Hände folgten den zartenVerästelungen ihrer Adern entzündete rote Linien, die auf die Unterarme übergriffen, wo sie sich als quer verlaufende tiefrote Schnitte in die Handgelenke eingruben.
    »Was ist das?«, fragte er, als ob er das nicht schon erkannt hätte. Es war die Geschichte von Annas Tod, die sich in Marybeth' Haut eingeschrieben hatte.
    »Anna: Sie ist jetzt ein Teil von mir. Ich trage sie in meinem Innern. Schon eine ganze Zeit, glaube ich.« Eine Aussage, die ihn erstaunlicherweise nicht überraschte. Auf einer bestimmten Ebene hatte er schon gespürt, dass Marybeth und Anna dabei waren, eins zu werden, miteinander zu verschmelzen. Er hatte es an Marybeths wieder hörbarem Akzent gemerkt, der sich immer mehr Annas schleppendem, lakonischem Provinzslang angeglichen hatte. Er hatte es daran gemerkt, dass Marybeth jetzt so mit ihrem Haar herumspielte, wie es auch Anna immer getan hatte. Marybeth redete weiter. »Sie will, dass ich ihr dabei helfe, in unsere Welt zurückzukehren, damit sie ihn aufhalten kann. Und ich bin die Tür – das hat sie gesagt.«
    »Marybeth«, begann er, wusste dann aber plötzlich nicht mehr weiter.
    Sie schloss die Augen und lächelte. »Stimmt, das ist mein Name. Nutz ihn nicht ab. Oder … nein. Mach weiter, nutz ihn ab. Ich mag, wenn du ihn aussprichst. Wie du ihn ganz sagst, nicht nur den Mary-Teil.«
    »Marybeth«, sagte er, ließ ihre Hände los und küsste sie über der linken Augenbraue auf die Stirn. »Marybeth.« Er küsste sie auf den linken Wangenknochen. Sie erzitterte – wohlig diesmal. »Marybeth.« Er küsste sie auf den Mund.
    »Stimmt. Die bin ich. Die will ich sein. Mary. Beth. Zwei Mädchen für den Preis von einem. He … vielleicht kriegst du ja tatsächlich zwei, wenn Anna wirklich in mir ist.« Sie öffnete die Augen und fand seinen Blick. »Wenn du mich liebst, Jude, liebst du vielleicht auchsie. Ist doch ein klasse Geschäft, oder? Ein Monsterschnäppchen, unwiderstehlich.«
    »Du bist das beste Schnäppchen, das ich je gemacht habe«, sagte er.
    »Vergiss das ja nie«, sagte sie und küsste ihn.
    Er öffnete die Tür und scheuchte die Hunde nach draußen. Eine Zeit lang waren Jude und Marybeth allein im Mustang, während die Schäferhunde sich auf dem Zementboden der Garage ausstreckten.
    36
    Das Bellen der Hunde riss ihn aus dem Schlaf. Sein Herz raste, und sein erster Gedanke war: Der Geist. Der Geist kommt.
    Angus und Bon waren wieder im Wagen, sie hatten hinten geschlafen. Nebeneinander standen sie auf der Rückbank und schauten durch das Seitenfenster zu einem hässlichen gelben Labrador hinunter. Der Labrador stand mit steifem Kreuz und aufgestelltem Schwanz neben dem Mustang und kläffte gelegentlich. Angus und Bon schauten voll erwartungsfroher Gier nach draußen und bellten ihrerseits gelegentlich. Dröhnend scharfes Gebell, das Jude in dem engen Innenraum des Mustangs in die Ohren stach. Marybeth wand sich auf den Beifahrersitz und verzog das Gesicht. Sie schlief nicht mehr, wünschte sich aber nichts

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