Blind
getreten.
Sie stellte die Tonne ab, ging über den Rasen zurück zum Haus und betrat durch die Vordertür den Flur, wo schon ihre Mutter wartete. Da das Mädchen die Tür offen ließ, hatten Jude und Marybeth einen guten Blick auf Mutter und Tochter.
Jessica McDermott Price war größer, als Anna es gewesen war, ihr Haar einen Hauch dunkler und ihr Mund umgeben von verkniffenen Falten. Sie trug eine Bauernbluse mit weiten, gekräuselten Ärmelaufschlägen und einen Knitterrock mit Blumendruckmuster – ein Aufzug, von dem Jude annahm, er solle ihr das Flair eines freien Geistes, einer derb empathischen Zigeunerin verliehen. Aber ihr Gesicht war zu sorgfältig und zu professionell geschminkt, und was er vom Haus erkennen konnte, waren dunkle, geölte und teuer aussehende Möbel, Holzvertäfelungen und Fensterbeschläge. Das waren nicht das Haus und Gesicht einer Wahrsagerin, sondern einer Investmentbankerin.
Jessica gab der Kleinen einen Rucksack – ein glänzendes purpur- und rosafarbenes Ding, farblich passend zu ihrer Windjacke, ihren Turnschuhen und dem Fahrrad, das in der Einfahrt lag. Dann hauchte sie ihr einen KUSS auf die Stirn. Das Mädchen trippelte nach draußen, schlug die Haustür zu und lief über den Rasen, wobei sie sich im Laufen den Rucksack über die Schultern zog. Als sie auf der anderen Straßenseite an Jude und Marybeth vorbeiging, warf sie ihnen einen kurzen, musternden Blick zu. Sie rümpfte die Nase, als hätte sie auf dem Rasen eines Nachbarn Abfall entdeckt, dann bog sie um die Ecke und war weg.
Sobald sie aus ihrem Blickfeld verschwunden war, spürte Jude ein Jucken unter den Armen, und er merkte, dass ihm das Hemd schweißnass am Rücken klebte.
»Also los«, sagte er.
Er wusste, dass er nicht zögern durfte, Zeit zum Nachdenken wäre jetzt das Gefährlichste. Er stieg aus. Angus sprang hinter ihm aus dem Wagen, auf der anderen Seite stieg Marybeth aus. »Warte hier«, sagte Jude.
»Spinnst du?«
Jude ging nach hinten zum Kofferraum.
»Wie willst du ins Haus kommen?«, fragte Marybeth. »Einfach vorn anklopfen, hallöchen, wir killen Sie jetzt?«
Er öffnete den Kofferraum und nahm das Reifenmontiereisen heraus. Er zeigte auf das Garagentor, das noch offen stand. Dann schlug er den Kofferraum zu und ging über die Straße. Angus schoss voraus, kam zurück, hechelte wieder davon, hob am Nachbarbriefkasten das Bein und pisste ihn an.
Obwohl es immer noch früh am Morgen war, brannte die Sonne schon auf Judes Nacken. Er nahm das Eisen am einen Ende und hielt es senkrecht zwischen Unterarm und Körper, damit man es nicht sehen konnte. Hinter ihm schlug jemand eine Autotür zu. Bon sprang an ihm vorbei, dann tauchte Marybeth neben ihm auf, schnaufend, mit schnellen Schritten.
»Jude, Jude. Warum … warum versuchen wir nicht, ganz normal mit ihr zu reden. Vielleicht hilft sie uns ja freiwillig. Sag ihr einfach … sag, dass du Anna nicht wehtun wolltest, dass du nicht gewollt hast, dass sie sich umbringt.«
»Anna hat sich nicht selbst umgebracht, und ihre Schwester weiß das. Darum geht's nicht. Ist es nie gegangen.« Jude schaute zur Seite und sah, dass Marybeth ein paar Schritte zurückgefallen war. Sie schaute ihn schockiert an. »Von Anfang an haben da mehr Sachen eine Rolle gespielt, als wir gedacht haben. Ich bin mir nicht so sicher, ob wir in dieser Geschichte die Bösen sind.«
Er ging die Einfahrt hinauf. Die Hunde sprangen nebenihm her, jeder an einer Seite, wie eine Ehrengarde. Er ließ den Blick über die Vorderseite des Hauses schweifen, über die Fenster, hinter denen weiße Spitzengardinen hingen, hinter denen es dunkel war. Wenn sie sie beobachtete, so bemerkte er nichts davon. Dann traten sie in das Halbdunkel der Garage, wo auf sauber gefegtem Beton ein kirschfarbenes Zweisitzer-Cabrio mit dem Wunschkennzeichen HYPNOIT stand.
Jude ging zu der Verbindungstür, die ins Haus führte, legte die Hand auf den Drehknopf, neigte den Kopf zur Seite und lauschte. Das Radio lief. Die langweiligste Stimme der Welt sagte, Blue Chips seien im Keller, Technologiewerte seien im Keller und quer durch die Bank seien Futures auf dem bestem Weg dorthin. Dann hörte er klappernde Absätze auf Fliesen, direkt hinter der Tür. Instinktiv machte er einen Satz rückwärts, aber es war schon zu spät. Die Tür ging auf.
Jessica McDermott Price lief fast in ihn hinein. Sie hatte die Autoschlüssel in der einen und ein schreiend buntes Täschchen in der anderen Hand. Als sie aufschaute,
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