Blind
Dass sie mich ins Gefängnis bringt. Craddock hat dieser verfluchten treulosen Seele nicht ein Haargekrümmt. Er hat sie geliebt. Er war der beste Mensch auf der Welt.«
»Ihr Daddy hat gern kleine Mädchen gefickt. Erst Sie, dann Anna. Ich habe es die ganze Zeit geahnt.«
Er stand gebückt über ihr. Er fühlte sich ein bisschen benommen. Die Sonne knallte durch die Fenster über dem Spülbecken, die Luft war warm und stickig und roch aufdringlich nach ihrem Parfüm, irgendeinem Jasminduft. Von der Küche blickte man durch eine halb offene Glasschiebetür auf eine geschlossene Veranda, deren Boden aus alten Redwood-Bohlen bestand. In der Mitte stand ein Tisch mit einer Spitzentischdecke, und darauf saß mit gesträubtem Fell eine langhaarige graue Katze, die sie mit ängstlichen Augen beobachtete. Die Radiostimme leierte gerade etwas von irgendwelchen Sachen, die man sich herunterladen könne. Der Sprecher hörte sich an wie ein summender Bienenstock. Mit einer solchen Stimme konnte man jeden in den Schlaf summen.
Jude wandte den Kopf und holte mit dem Montiereisen aus, um dem Mann im Radio das Maul zu stopfen. Dann sah er die Fotografie, die danebenstand, und vergaß sofort, was er vorhatte. Das 20 x 25 große Foto steckte in einem Silberrahmen und zeigte den grinsenden Craddock. Er trug den schwarzen Anzug mit den glänzenden vierteldollargroßen Knöpfen. Die eine Hand lag auf seinem Filzhut, als wollte er ihn gerade abnehmen, um jemanden zu begrüßen, die andere auf der Schulter des kleinen Mädchens, Jessicas Tochter, die mit ihrer breiten Stirn und den weit auseinander stehenden Augen Anna so ähnlich sah. Das auf dem Foto sonnenverbrannte Gesicht war ernst, undurchdringlich, ausdruckslos, das Gesicht einer Person, die darauf wartete, endlich aus diesem lahmen Lift rauszukommen, ein Blick, der ohne jedes Gefühl war. Dieser Ausdruck war Anna ähnlicher als alles andere. Das warAnna auf dem Höhepunkt eines depressiven Schubs. Jude fand die Ähnlichkeit verstörend.
Jessica rutschte zurück und nutzte seine Zerstreutheit, um ein bisschen von ihm wegzukommen. Sofort packte er aber wieder ihre Bluse, wobei ein weiterer Knopf durch die Luft segelte. Die bis zur Taille offene Bluse hing ihr jetzt an den Schultern herunter. Mit dem Unterarm wischte sich Jude den Schweiß von der Stirn. Noch hatte er einiges mit ihr zu besprechen.
»Anna hat nie direkt gesagt, dass man sie als Kind missbraucht hat. Aber sie hat sich dermaßen angestrengt, das Thema Kindheit zu umschiffen, dass es fast schon offensichtlich war. Und in ihrem letzten Brief an mich hat sie geschrieben, dass sie die Geheimnisse so satt hat, dass sie es nicht mehr aushält. Auf den ersten Blick hört sich das wie ein Abschiedsbrief an. Und es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich draufgekommen bin, was sie eigentlich damit meinte. Dass sie sich nämlich die Wahrheit von der Seele reden wollte. Wie ihr Stiefvater sie immer in Trance versetzt hat, damit er mit ihr machen konnte, was er wollte. Und er war auch ganz gut – eine Zeit lang konnte er ihr Gedächtnis ruhig stellen, aber ganz konnte er ihre Erinnerung daran, was er getan hatte, dann doch nicht auslöschen. Immer wenn sie einen von ihren emotionalen Crashs gehabt hat, ist es wieder nach oben gekommen. Und schließlich, ich schätze mal, als sie ein Teenager war, ist sie draufgekommen, hat sie begriffen, was er mit ihr gemacht hat. Jahrelang hat Anna nichts anderes gemacht, als davor davonzulaufen, als vor ihm davonzulaufen. Und dann hab ich sie in einen Zug gesetzt und zurückgeschickt, und sie ist wieder bei ihm gelandet. Und hat gesehen, wie alt er schon war und dass er nicht mehr lange leben würde. Vielleicht hat sie da beschlossen, dass es jetzt keinen Grund mehr gab, noch vor irgendwas davonzulaufen.
Und sie hat damit gedroht, allen zu erzählen, was Craddock ihr angetan hat. Stimmt's? Sie hat gesagt, sie würde ihm die Bullen auf den Hals hetzen. Und deshalb hat er sie getötet. Er hat sie noch einmal in Trance versetzt und ihr dann die Pulsadern aufgeschnitten. Er hat ihr ein letztes Mal das Hirn manipuliert, hat sie in die Wanne gelockt, aufgeschlitzt und dann dabei zugeschaut, wie das Blut aus ihr rausläuft. Hat danebengesessen und zugeschaut …«
»Halten Sie Ihren Mund«, sagte Jessica. Ihre Stimme war schneidend, schrill, schroff, wie das Krächzen einer Krähe. »Diese letzte Nacht war scheußlich. Es war einfach scheußlich, was sie zu ihm gesagt hat und was sie ihm angetan
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