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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Jahren, als er noch Justin Cowzynski geheißen hatte, Jahre bevor er sich auch nur hatte vorstellen können, mal jemand anders zu sein. Er stapfte eines Tages über das Ostfeld und hörte plötzlich unter seinem Fuß etwas knacken. Er bückte sich, um nachzuschauen, worauf er da getreten war, und zog eine leere Schrotpatrone aus dem Matsch. Wahrscheinlich von seinem Vater. Es war Herbst, da ging der Alte auf Truthähne. Justin schnüffelte an der zersplitterten, zusammengedrückten Hülse. Ein Hauch Schießpulvergeruch kitzelte ihn in der Nase … ein Sinneseindruck, der eigentlich unangenehm sein sollte, der ihn aber auf merkwürdige Weise faszinierte. Die Patrone gelangte in der Brusttasche seiner Latzhose nach Hause und landete in einer der leeren Pralinenschachteln seiner Mutter.
    Schon bald bekam sie Gesellschaft von zwei scharfen Patronen einer .38er, die er aus der Garage eines Freundes hatte mitgehen lassen, ein paar kuriosen leeren Silberhülsen, die er am Schießstand gefunden hatte, einerPatrone aus einem britischen Sturmgewehr, die so lang war wie sein Mittelfinger, und noch mehreren anderen Patronen. Nachts lag er im Bett und schaute sich seine Sammlung an. Er beobachtete, wie sich das Mondlicht in den polierten Hülsen spiegelte, und roch an dem Metall, wie vielleicht ein Mann an der parfümierten Schleife seiner Geliebten schnüffelte, nachdenklich, den Kopf voller Gedanken, voller süßer Träume.
    In der Highschool trug er die britische Patrone an einem Lederriemen um den Hals, bis der Direktor sie konfiszierte. Jude wunderte sich noch heute, dass sich damals keine Gelegenheit gefunden hatte, jemanden zu erschießen. Die Schlüsselmerkmale eines Schulattentäters hatten auch auf ihn gepasst: Hormondruck, Elend, Munition. Die Leute fragten sich, wie so was wie Columbine passieren konnte. Jude fragte sich, warum es nicht öfter passierte.
    Sie lagen alle da: die zerquetschte Schrotpatrone, die leeren Silberhülsen und die 5,56 x 45-Patrone aus der AR-15, die gar nicht da sein konnte, weil der Direktor sie ihm nie zurückgegeben hatte. Das war eine Warnung. Jude hatte letzte Nacht einen toten Mann gesehen, Annas Stiefvater, und der wollte Jude auf diese Weise mitteilen, dass sie miteinander noch nicht fertig waren.
    Allein der Gedanke war verrückt. Es musste ein Dutzend vernünftigere Erklärungen für die Schachtel und die Patronen geben. Aber was vernünftig war, interessierte Jude nicht. Er war kein vernünftiger Mensch. Ihn interessierte nur die Wahrheit. Er hatte letzte Nacht einen toten Mann gesehen. Vielleicht für zwei Minuten hatte er das ausblenden können, in Dannys sonnendurchflutetem Büro, hatte so tun können, als wäre das nicht passiert. Aber es war passiert.
    Er war jetzt wieder ruhiger und dachte kühl darüber nach, was es mit den Kugeln auf sich haben könnte. Ihm kam der Gedanke, dass sie mehr als eine Warnungsein könnten. Vielleicht waren sie auch eine Botschaft. Der tote Mann, der Geist, teilte ihm mit, dass er sich bewaffnen solle.
    Jude dachte an die Super Blackhawk, die im Safe unter seinem Schreibtisch lag, besann sich aber eines Besseren. Worauf sollte er schießen? Er begriff, dass der Geist zuallererst in seinem Kopf existierte. Dass Geister vielleicht immer Köpfe, nicht Orte heimsuchten. Wenn er auf ihn schießen wollte, dann müsste er sich den Lauf an die eigene Schläfe halten.
    Er schob die Patronen zurück in die Pralinenschachtel seiner Mutter und klappte den Deckel zu. Patronen nutzten ihm gar nichts. Aber es gab andere Arten Munition.
    Ein Regal, das eine Wand des Studios bedeckte, beherbergte seine Bibliothek, Bücher über Okkultismus und übernatürliche Phänomene. Black Sabbath waren gerade groß herausgekommen, als Jude seine erste Platte aufnahm. Sein Manager hatte ihm deshalb geraten, dass es nicht schaden könne, wenn er zumindest durchblicken lasse, dass er mit Luzifer auf Du und Du stehe. Der Theorie folgend, wenn Fans schon gut waren, dass dann Anhänger eines Kults noch besser sein müssten, hatte Jude bereits damals begonnen, sich mit Gruppenpsychologie und Massenhypnose zu beschäftigen. Er fügte seiner Leseliste Aleister Crowley und Charles Dexter Ward hinzu und arbeitete sich mit akribischer, freudloser Konzentration durch deren Werke und strich sich die Grundgedanken und Schlüsselstellen an.
    Später, als er schon eine Berühmtheit war, hatten ihm Satanisten, Wiccaner und Spiritualisten, die von seiner Musik fälschlicherweise darauf

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