Blind
der süße Duft des in der Hitze backenden Heus; Nachmittage, die angefüllt waren mit einlullenden, sinnlosen Fragen – ein nie endendes Verhör, das mal ermüdend, mal amüsant, mal erotisch gewesen war. Ihr tätowierter eisweißer Körper mit den knochigen Knien und mageren Oberschenkeln eines Langstreckenläufers. Ihr Atem in seinem Nacken.
»He«, sagte Danny. Er beugte sich vor und tippte mit den Fingern Judes Handgelenk an. Bei der Berührung klappte Judes Hand auf, und er ließ den Telefonhörer los. »Alles in Ordnung?«
»Keine Ahnung.«
»Willst du mir nicht erzählen, was los ist?«
Langsam hob Jude den Blick. Danny stand halb erhoben hinter dem Schreibtisch. Er hatte etwas Farbe verloren. Die rötlich braunen Sommersprossen hoben sich scharf vom Weiß seiner Wangen ab.
Danny war ihr Freund gewesen, auf die gefahrlose,unbeschwerte und etwas oberflächliche Art, in der er Freundschaft mit allen von Judes Mädchen schloss. Er spielte die Rolle des liebenswürdigen, verständnisvollen Kumpels, der vertrauensvoll ihre Geheimnisse bewahrte, bei dem sie sich aussprechen, mit dem sie tratschen konnten; er war jemand, der Intimität bot, ohne dass sie sich auf ihn einlassen mussten, der ihnen Dinge von Jude erzählte, die Jude ihnen nicht erzählte.
Dannys Schwester war an einer Überdosis Heroin gestorben, als er im ersten Jahr auf dem College war. Sechs Monate später hatte sich seine Mutter aufgehängt, und Danny war es gewesen, der sie gefunden hatte. Ihr Körper baumelte am einzigen Deckenbalken in der Vorratskammer; die Zehen zeigten nach unten und drehten sich über einem umgestoßenen Fußschemel leicht im Kreis. Man brauchte kein Psychologe zu sein, um zu erkennen, dass dieser fast gleichzeitige Doppelschlag des Todes von Schwester und Mutter auch einen Teil von Danny ausgelöscht hatte, dass er auf dem Stand eines Neunzehnjährigen stehen geblieben war. Auch wenn er keine schwarz lackierten Fingernägel und keine Ringe in den Lippen trug, unterschied sich die Anziehungskraft, die Jude auf Danny ausübte, nicht sehr von der, die auch Georgia, Florida oder eines seiner anderen Mädchen zu ihm hingezogen hatte. Jude sammelte sie, wie der Rattenfänger von Hameln Ratten und Kinder gesammelt hatte. Aus Hass, Perversion und Schmerzen machte er Melodien, und sie kamen zu ihm, hüpften zu seiner Musik und hofften darauf, dass er sie mitsingen ließ.
Erst wollte Jude Danny nicht erzählen, was Florida sich angetan hatte, er wollte sein Gefühle schonen. Es war besser, ihm nichts zu sagen. Er war sich nämlich nicht sicher, wie Danny es aufnehmen würde.
Dann erzählte er es ihm doch. »Anna. Anna McDermott. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. DieFrau, mit der ich da gerade gesprochen habe, ist ihre Schwester.«
»Florida?«, sagte Danny. Er lehnte sich im Bürostuhl zurück. Das Leder quietschte. Danny schien die Luft wegzubleiben. Dann drückte er sich mit der Hand auf den Unterleib und beugte sich leicht vor, als bekäme er einen Magenkrampf. »O Scheiße. Verdammte Scheiße«, sagte Danny voller Mitgefühl. Nie hatten Worte weniger obszön geklungen.
Beide schwiegen. Erst jetzt fiel Jude auf, dass das Radio leise lief. Trent Reznor sang, dass er bereit sei, sein empire of dirt aufzugeben. Komisch, dass gerade jetzt die Nine Inch Nails im Radio liefen. Jude hatte Florida hinter der Bühne bei einem Konzert von Trent Reznor kennengelernt. Die Tatsache ihres Todes traf ihn nun noch einmal mit voller Wucht, als würde sie ihm erst jetzt zum ersten Mal bewusst. Bist du früher oft am Lake Pontchartrain angeln gewesen? Und dann verschmolz der Schock mit angewidertem Groll. Ihr Tod war so sinnlos, dumm und selbstgefällig, dass er sie unwillkürlich ein bisschen dafür hasste, dass er sie anrufen und übel beschimpfen wollte. Nur dass er sie nicht anrufen konnte, weil sie tot war.
»Hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Weiß ich nicht. Sonderlich viele Einzelheiten hat mir die Schwester nicht zukommen lassen. War nicht gerade der hilfreichste Anruf der Welt. Hast du ja selbst mitbekommen.«
Aber Danny hörte schon nicht mehr zu. »Wir sind manchmal auf eine Margarita ausgegangen«, sagte er. »Sie war wirklich ein verdammt nettes Mädchen. Sie und ihre Fragen. Einmal hat sie mich gefragt, von wo aus ich mir als Kind am liebsten den Regen angeschaut hätte. Was ist das bloß für eine Frage? Ich musste die Augen schließen und ihr dann beschreiben, was ich gesehen habe, wenn ich bei
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