Blind
legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Dieses ganze Zeug, was du eben am Telefon gesagt hast. Von wegen, ein paar Leute bei ihr vorbeischicken. Oder dass du selbst runterfährst. Du warst ziemlich angefressen. So hab ich dich noch nie erlebt. MUSS ich mir Sorgen machen?«
»Du? Nein«, sagte Jude. »Sie? Möglich.«
9
Seine Gedanken sprangen von einer üblen Sache zur nächsten: Anna, nackt, mit eingefallenen Augen, in rotem Badewasser; das Telefonat mit Jessica Price – Sie werden sterben, und die kalte Hand auf Ihrem Mund wird seine Hand sein; der alte Mann in seinem Johnny-Cash-Anzug auf dem Shaker-Stuhl im Flur, wie er langsam den Kopf hebt und ihn, Jude, anschaut.
Er musste den Lärm in seinem Kopf zum Schweigen bringen, was ihm gewöhnlich am besten gelang, wenn er etwas Lärm mit seinen Händen machte. Er ging mit seiner Dobro ins Aufnahmestudio und spielte ein bisschen darauf herum, war aber mit der Tonart nicht zufrieden. Er ging in die Abstellkammer, um dort nach einem Capo zu suchen, und stieß dabei auf eine Schachtel mit Patronen.
Die Schachtel war herzförmig, eine von jenen gelben herzförmigen Schachteln, die sein Vater seiner Mutter jedes Jahr zu Weihnachten und zu jedem Valentinstag, Muttertag und Geburtstag schenkte. Martin schenkte ihr nie etwas anderes, keine Rosen, keinen Ring, keine Flasche Champagner, sondern immer nur die gleiche große Schachtel Pralinen, die er immer im gleichen Supermarkt kaufte.
Ihre Reaktion darauf war so gleichbleibend wie sein Geschenk. Immer zeigte sie ein dünnes, verlegenes Lächeln, bei dem sie die Lippen geschlossen hielt. Sie entblößte ihre Zähne nur ungern. Die oberen waren falsch. Die echten waren ihr eingeschlagen worden. Immer bot sie ihrem Mann zuerst von den Pralinen an, der dannmit einem stolzen Lächeln ablehnte, als wäre sein Geschenk eine Diamantenhalskette und nicht eine Schachtel mit Pralinen für drei Dollar. Erst danach hielt sie Jude die Schachtel hin.
Und immer nahm sich Jude die gleiche Praline, die in der Mitte, eine Kirsche mit Schokoladenüberzug. Er mochte das schmatzende Geräusch, das sie machte, wenn er hineinbiss, den leicht verdorbenen, klebrig süßen Geschmack des Saftes, die faulig weiche Konsistenz der Kirsche. Er stellte sich vor, dass er sich einen Augapfel mit Schokoladenüberzug in den Mund steckte. Schon damals hatte Jude sein Vergnügen daran, sich das Schlimmste auszumalen, in den grausigsten Möglichkeiten zu schwelgen.
Jude fand die Schachtel mit den Patronen in einem Kuddelmuddel aus Kabeln, Pedalen und Adaptern hinter einem Gitarrenkasten, der an der Rückwand der Abstellkammer lehnte. Und zwar nicht hinter irgendeinem Gitarrenkasten, sondern hinter dem, mit dem er vor dreißig Jahren Louisiana verlassen hatte. Die gebrauchte Vierzigdollargitarre, die dazugehört hatte, gab es allerdings schon lange nicht mehr. Er hatte die Yamaha auf einer Bühne irgendwo in Kalifornien zurückgelassen, als sie 1975 als Vorgruppe von Led Zeppelin gespielt hatten. Damals hatte er eine Menge Dinge zurückgelassen: seine Familie, Louisiana, die Schweine, die Armut, seinen Geburtsnamen. Er verschwendete nicht viel Zeit mit Rückblicken.
Er hob die Pralinenschachtel auf und ließ sie sofort wieder fallen. Alle Kraft war aus seinen Fingern gewichen. Ohne sie zu öffnen, wusste Jude sofort, was sich in der Schachtel befand. In einem Anfall fast atavistischen Horrors zuckte er zurück, so als hätte er in dem Kabelhaufen herumgekramt und plötzlich wäre eine fette Spinne mit pelzigen Beinen auf seine Hand gekrabbelt. Er hatte die Schachtel mit der Munition seitüber drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Er war sich sicher, dass er sie in Moore's Corner im Bett seiner Kindertage, eingeklemmt zwischen der Matratze und den Sprungfedern, zurückgelassen hatte. Er hatte sie nicht mitgenommen, als er Louisiana verlassen hatte, und es war völlig unmöglich, dass sie hier hinter seinem alten Gitarrenkasten liegen konnte. Aber da lag sie. Und wenn er noch einen Rest an Zweifel gehabt hatte, dann erledigte sich der, als er beim Aufprall das Klimpern der Messinghülsen hörte.
Ein paar Sekunden starrte er die gelbe herzförmige Schachtel an und zwang sich dann, sie aufzuheben. Er klappte den Deckel auf und kippte die Schachtel aus. Patronen kullerten über den Boden.
Er hatte sie selbst gesammelt, seine erste Sammlung. Er war so gierig danach gewesen wie andere Kinder nach Sammelkarten mit Baseballspielern. Angefangen hatte es mit acht
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