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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Jude auf. Sein Gesicht war ungesund warm. Er lag auf der Seite, auf seinem rechten Arm, und als er sich aufrichtete, hatte er kein Gefühl in der Hand. Sogar jetzt noch, im Wachzustand, hatte er den Geruch von etwas Verbranntem in der Nase, das wie angesengte Haare roch. Er schaute an sich hinab und rechnete fast damit, wie im Traum im Anzug des toten Mannes zu stecken. Nein, er trug noch seinen schmuddeligen alten Bademantel.
    Der Anzug. Der Anzug war der Schlüssel. Er musste nur den Anzug wieder verkaufen, den Anzug mit dem Geist. Das war so offensichtlich, dass es ihm unerklärlich war, warum er erst jetzt auf diesen Gedanken kam. Irgendwer würde ihn schon wollen; vielleicht gab es sogar jede Menge Leute, die ihn wollten. Er hatte Fans erlebt, die sich gegenseitig getreten und angespuckt, sich gebissen und gekratzt hatten, und das alles nur wegen ein paar Trommelstöcken, die man in die Menge geworfen hatte. Auf einen Geist direkt aus dem Haus von Judas Coyne wären sie erst recht scharf, dachte er. Irgendein unseliges Arschloch würde ihm das Ding schon abnehmen, und dann wäre er den Geist auch los. Was dann auf den Käufer zukam, belastete Judes Gewissen nicht sonderlich. Was ihn interessierte, mehr als alles andere, war sein eigenes Überleben und das von Georgia.
    Er stand unsicher neben der Couch und dehnte die rechte Hand. Sie prickelte eisig, der Blutkreislauf kam allmählich wieder in Gang. Die Hand würde höllisch wehtun.
    Das Licht hatte sich verändert. Es war zur anderen Seite des Raums gewandert und fiel blass und schwach durch die Gardinen. Schwer zu sagen, wie lange er geschlafen hatte.
    Der Geruch nach Verbranntem lockte ihn aus der Musikbibliothek in die dunkle Diele und von da durch die Küche in die Vorratskammer. Durch die offene Tür zur hinteren Veranda sah er Georgia. Sie trug eine schwarze Jeansjacke und darunter ein Ramones-T-Shirt, das die glatte weiße Taille frei ließ. Sie schien jämmerlich zu frieren. Ihr Atem dampfte in der kalten Luft. In der linken Hand hielt sie eine Zange.
    »Ich weiß ja nicht, was du da brutzelst, aber du versaust es«, sagte er und fächelte mit einer Hand in dem Rauch herum.
    »Bestimmt nicht«, sagte sie und warf ihm einen stolzen, herausfordernden Blick zu. In diesem Augenblick war sie so schön, dass es ihm fast das Herz brach – der weiße Hals, das Grübchen, der zarte Schwung der nur angedeuteten Backenknochen. »Mir ist die Lösung eingefallen. Wie wir uns den Geist vom Hals schaffen.«
    »Und, wie?«, fragte Jude.
    Sie fischte mit der Zange etwas aus der Glut und hielt es in die Höhe. Es war ein brennender schwarzer Stofffetzen.
    »Der Anzug«, sagte sie. »Ich hab ihn verbrannt.«
    16
    Eine Stunde später dämmerte es. Jude saß in seinem Arbeitszimmer und beobachtete, wie am Himmel das letzte Licht verblasste. Er hielt eine Gitarre im Schoß. Er musste nachdenken. Beides ging gut zusammen.
    Er saß in einem Sessel vor dem Fenster, durch das er die Scheune, den Hundezwinger und die kahlen Bäume dahinter im Blick hatte. Jude hatte das Fenster ein Stück hochgeschoben. Die hereinwehende Luft war frisch und schneidend. Das machte ihm nichts aus. Im Innern des Hauses war es auch nicht viel wärmer, und er genoss die frische Oktoberluft und den angenehmen Geruch von verfaulenden Äpfeln und welkem Laub. Eine Wohltat nach dem Gestank der Abgase. Obwohl er geduscht und sich umgezogen hatte, roch er noch danach.
    Jude saß mit dem Rücken zur Tür. Als Georgia ins Zimmer kam, sah er im Fenster ihr Spiegelbild. Sie hielt in jeder Hand ein Glas Rotwein. Wegen des dicken Verbandes um ihren Daumen konnte sie das eine Glas nicht richtig fassen und verschüttete etwas, als sie neben dem Sessel auf die Knie ging. Sie küsste sich den Wein von der Haut und stellte eines der Gläser auf den Verstärker, der neben Judes Füßen stand.
    »Er kommt nicht zurück«, sagte sie. »Der tote Mann, meine ich. Jede Wette. Der Anzug ist verbrannt, also sind wir auch ihn los. Kleiner Geniestreich. Außerdem musste das Scheißding sowieso weg. Igitt. Bevor ich den Anzug runtergebracht habe, hab ich ihn in zwei Müllbeutel gestopft, und trotzdem hab ich gedacht, ich muss kotzen, so hat er gestunken.«
    Er wollte, dass du das tust. Der Satz lag ihm auf der Zunge, aber er sprach ihn nicht aus. Erstens wäre sie sauer, und zweitens war es jetzt ohnehin zu spät.
    Georgia musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Seine Zweifel müssen ihm im Gesicht gestanden haben,

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