Blind
jedenfalls fragte sie ihn: »Du glaubst, dass er zurückkommt, stimmt's?« Als Jude nicht antwortete, beugte sie sich zu ihm vor und sagte mit leiser, drängender Stimme: »Warum hauen wir nicht einfach ab? Wir nehmen uns ein Zimmer in der Stadt, und dann nichts wie weg.«
Er dachte darüber nach und legte sich langsam und nur mit Mühe eine Antwort zurecht. Schließlich sagte er: »Ich glaube nicht, dass das irgendwas bringen würde, Hals über Kopf zu verschwinden. Das Haus ist ihm egal, er ist hinter mir her.«
Das war das eine, aber eben nicht alles. Das andere war nur schwer in Worte zu fassen. Es ging darum, dass alles, was bislang geschehen war, einer Logik folgte der Logik des toten Mannes. Psychologische Kriegführung. Fröstelnd fiel Jude diese Wendung ein. Er fragte sich wieder, ob der Geist nicht versuchte, ihn zur Flucht zu verleiten. Und wenn, warum. Vielleicht bedeutete das Haus oder etwas, das sich im Haus befand, einen Vorteil für Jude. Irgendwie konnte er sich aber nicht vorstellen, was das sein könnte, sosehr er sich auch den Kopf zerbrach.
»Schon mal daran gedacht, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn du allein verschwindest?«, sagte Jude.
»Du wärst heute fast gestorben«, sagte Georgia. »Ich habe keine Ahnung, was hier mit dir vorgeht, aber ich werde ganz sicher nirgendwohin gehen. Ich glaube nicht, dass ich dich überhaupt noch jemals aus den Augen lassen werde. Außerdem hat mir der Geist nichts getan. Ich wette, dass er mir gar nichts anhaben kann.«
Aber Jude hatte gesehen, wie Craddock ihr etwas insOhr geflüstert hatte. Er hatte ihren verzweifelten Blick gesehen, als das Rasiermesser des toten Mannes vor ihren Augen hin- und hergeschwungen war. Und er hatte auch nicht Jessica Price' Stimme am Telefon vergessen, diesen schleppenden, bösartigen Redneck-Akzent: Sie werden nicht leben, und niemand, der Ihnen hilft, wird leben.
Craddock konnte Georgia etwas anhaben. Sie musste weg von hier. Das war Jude jetzt klar. Aber der grauenvolle Gedanke, sie wegzuschicken und dann nachts plötzlich allein aufzuwachen und in der Dunkelheit den toten Mann über sich zu sehen, machte ihn schwach. Wenn sie ginge, so Judes Ahnung, würde auch der letzte Rest an Mumm, der ihm geblieben war, mit ihr gehen. Er wusste nicht, ob er die Nacht und die Stille aushaken würde, wenn sie nicht neben ihm lag. Dieses unverhüllte, unerwartete Eingeständnis von Hilfsbedürftigkeit stürzte ihn in einen kurzen, schlimmen Schwindelanfall. Er war ein Mann, der Angst vor großen Höhen hatte, der hilflos nach unten starrte, wenn ihn das Riesenrad in den Himmel hob.
»Und Danny?«, sagte Jude. Seine Stimme kam ihm angespannt vor, nicht wie seine eigene. Er räusperte sich. »Danny meinte, er ist gefährlich.«
»Hat ihm der Geist etwa was getan? Danny hat irgendwas gesehen, hat es mit der Angst bekommen und ist um sein Leben gerannt. Ihm ist absolut nichts passiert.«
»Nur weil der Geist nichts getan hat, heißt das noch lang nicht, dass er nicht könnte. Du hast doch gesehen, was mir heute Nachmittag passiert ist.«
Georgia nickte. Sie kippte den Rest ihres Weins mit einem Schluck hinunter und schaute Jude mit eindringlichen leuchtenden Augen ins Gesicht. »Und du schwörst, dass du nicht in der Scheune warst, um dich umzubringen? Schwör es, Jude. Und werd nicht gleich sauer, dass ich das frage. Ich muss das einfach wissen.«
»Glaubst du, dass ich der Typ bin?«
»Jeder ist der Typ.«
»Ich nicht.«
»Jeder. Ich hab's versucht. Mit Tabletten. Bammy hat mich im Bad gefunden. Ich habe bewusstlos auf dem Boden gelegen. Meine Lippen waren blau angelaufen. Hab kaum noch geatmet. Drei Tage nach dem letzten Tag in der Highschool. Meine Mutter und mein Vater haben mich hinterher im Krankenhaus besucht. Weißt du, was mein Vater gesagt hat? ›Nicht mal das hast du hingekriegt.‹«
»Wichser.«
»Kannst du laut sagen.«
»Warum wolltest du dich umbringen? Du hattest hoffentlich einen guten Grund.«
»Weil ich mit dem besten Freund meines Vaters ins Bett gestiegen bin. Seit ich dreizehn war. Vierzig Jahre alt, hat selbst eine Tochter. Und dann ist es rausgekommen. Seine Tochter hat's rausgefunden. Sie war meine Freundin. Sie hat gesagt, dass ich ihr Leben ruiniert hätte, dass ich eine Hure wäre.« Georgia drehte ihr Glas mit der linken Hand im Kreis und beobachtete, wie sich das schimmernde Licht auf dem Rand entlangtastete. »Da konnte ich schlecht was dagegen sagen. Er hat mir Sachen mitgebracht,
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