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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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einem Blitzlicht, dann fiel der Fernseher in die Lücke zwischen Regal und Wand. Knirschende Plastikgeräusche und ein kurzes elektrisches Zischen, dann Stille. Noch so ein Tag, und vom Haus würde nichts mehr übrig sein.
    Er drehte sich um und sah Craddocks Geist hinter Georgias Sessel stehen. Der Geist streckte gerade die Arme aus, griff um die Rückenlehne des Sessels herum und nahm Georgias Kopf zwischen die Hände. Vor den Augenhöhlen des alten Mannes tanzten schimmernde schwarze Linien.
    Georgia bewegte sich nicht, noch schaute sie sich um. Als züngelte eine giftige Schlange vor ihrem Gesicht, saß sie regungslos da und wagte nicht einmal zu atmen, aus Furcht, gebissen zu werden.
    »Ihretwegen bist du doch nicht gekommen«, sagte Jude. Während er das sagte, bewegte er sich langsam an der Wand entlang nach links in Richtung Tür. »Auf sie hast du es doch gar nicht abgesehen.«
    In der einen Sekunde umfassten seine Hände noch sanft Georgias Kopf, in der nächsten hatte er schon den rechten Arm gehoben und gerade ausgestreckt: Sieg heil. Die Bewegungen des alten Mannes schienen in Zeitsprüngen abzulaufen, wie bei einer zerkratzten DVD, die übergangslos und unberechenbar von Bild zu Bild hüpfte. Aus der erhobenen rechten Hand fiel die goldene Kette. An ihrem Ende baumelte das glänzende, halbmondförmige Rasiermesser. Die Schneide schillerte in blassen Regenbogenfarben, wie ein auf dem Wasser treibender Ölfleck.
    Zeit für unsere Reise, Jude.
    »Verschwinde«, sagte Jude.
    Wenn ich verschwinden soll, musst du nur auf meineStimme hören. Du musst genau zuhören. Du musst das Radio sein, meine Stimme ist die Sendung. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es schön, wenn man etwas Radio hören kann. Wenn du willst, dass das alles aufhört, dann musst du ganz genau zuhören. Du musst mit deinem ganzen Herzen wollen, dass es aufhört. Willst du, dass es aufhört?
    Jude mahlte mit den Kiefern und biss die Zähne zusammen. Nicht antworten, sagte er sich. Er spürte, dass es ein Fehler wäre, ihm zu antworten, und stellte bestürzt fest, dass er langsam nickte.
    Willst du mir etwa nicht genau zuhören? Ich weiß, dass du es willst. Ich weiß es. Hör mir zu. Du kannst die ganze Welt ausblenden und nichts als meine Stimme hören. Weil du konzentriert zuhörst.
    Jude nickte weiter. Sein Kopf bewegte sich langsam auf und ab, während um ihn herum alle Geräusche nach und nach verstummten. Erst als sie verschwunden waren, wurde sich Jude bewusst, das da noch andere Geräusche gewesen waren: das tiefe Brummen des Pick-ups im Leerlauf; das schwächliche, tief aus Georgias Rachen kommende Wimmern; dazu passend sein eigenes heiseres Keuchen. Die plötzliche und vollständige Abwesenheit jedes Geräuschs dröhnte ihm in den Ohren, als ob ihm eine gewaltige Explosion die Trommelfelle zerfetzt hätte.
    Die nackte Klinge schwang in kleinen Bogen hin und her, hin und her, hin und her. Jude fürchtete diesen Anblick. Er zwang sich dazu, zur Seite zu schauen.
    Du brauchst sie nicht anzuschauen, sagte Craddock. Ich bin tot. Ich brauche kein Pendel, um in deinen Geist einzudringen. Ich bin schon drin.
    Und Jude merkte, wie sich sein Blick, ohne dass er es wollte, wieder an die Klinge heftete.
    »Georgia«, sagte Jude oder versuchte zumindest, es zu sagen. Er spürte das Wort auf den Lippen, im Mund,in der Gestalt seines Atems, aber er konnte seine Stimme nicht hören, konnte überhaupt nichts hören in dieser grässlichen, alles verschlingenden Stille. Kein Krach war ihm jemals so laut vorgekommen wie diese besondere Stille.
    Ich werde sie nicht töten. O nein, sagte der tote Mann. Sein Tonfall blieb immer der gleiche. Er klang geduldig und verständnisvoll. Ein tiefes, voll tönendes Summen, das Jude an einen Bienenstock erinnerte. Das wirst du tun. Nur du. Weil du es willst.
    Jude öffnete den Mund, um ihm zu sagen, wie sehr er sich da täusche, sagte stattdessen aber: »Ja.« Jedenfalls nahm er an, dass er das sagte. Es war eher ein lauter Gedanke.
    Braver Junge, sagte Craddock.
    Georgia fing an zu weinen, obwohl sie sich sichtbar anstrengte, sich nicht zu bewegen, nicht zu zittern. Jude konnte sie nicht hören. Craddocks Klinge huschte hin und her und durchschnitt die Luft.
    Ich will ihr nicht wehtun. Zwing mich nicht, ihr wehzutun, dachte Jude.
    Was du willst, spielt hier keine Rolle. Du nimmst jetzt den Revolver, verstanden? Sofort!
    Jude bewegte sich. Er fühlte sich auf raffinierte Weise von seinem Körper abgetrennt, fühlte

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