Blind
das, was wichtig war.
Der Schmerz war ein rotes Band, das er zwischen den Händen hielt, dem er folgte, weg von der Stimme des toten Mannes, zurück zu seinen eigenen Gedanken. Seine Schmerztoleranz war groß, war es immer gewesen, und in anderen Phasen seines Lebens hatte er den Schmerz sogar bewusst gesucht. Ein Schmerz saß jetzt tief in seinem Handgelenk, zwischen den Knochen, ein Zeichen, wie tief die Wunde war. Irgendwie wusste er diesen Schmerz zu würdigen, fand ihn staunenswert. Während er sich erhob, sah er sein Spiegelbild im Fenster. Das Grinsen in seinem zotteligen Bart war ein noch schlimmerer Anblick als das Entsetzen, das er erst vor wenigen Augenblicken in seinem Gesicht gesehen hatte.
Komm her, sagte Craddocks Geist. Jude verlangsamte kurz seinen Schritt, ging dann aber in normalem Tempo weiter.
Er warf einen kurzen Blick auf Georgia, als er an ihr vorbeiging – sich umzudrehen, um zu sehen, was Craddock tat, erschien ihm zu riskant. Sie lag immer noch zusammengekrümmt auf dem Boden, die Arme um den Bauch geschlungen, die Haare im Gesicht. Sie schaute unter ihren Ponyfransen hervor zu ihm nach oben. Auf ihren Wangen Schweiß, unter den flatternden Lidern flehende, fragende, von Schmerz verschleierte Augen.
Er wünschte sich, er hätte die Zeit, ihr zu sagen, dass er ihr nicht hatte wehtun wollen, dass er nicht davonlief und sie im Stich ließ, sondern den toten Mann weglockte. Aber der Schmerz in seiner Hand war zu stark. Er konnte nicht denken, war nicht fähig, Worte zu klarenSätzen aufzureihen. Außerdem wusste er nicht, wann Craddock ihn wieder in seine Gewalt bekommen würde, wie lange er noch imstande sein würde, eigenständig zu denken. Er musste bestimmen, was als Nächstes passierte und wie schnell es passierte. Und schnell musste es sein. Genau. Besser als langsam. Am besten war er immer im 5/4-Takt gewesen.
Er keuchte den Gang entlang, dann die Treppe hinunter, schnell, fast zu schnell, vier Stufen auf einmal, mehr fallend als laufend. Er stürzte die letzten Stufen zu den roten Tonfliesen der Küche hinunter, knickte um, stolperte gegen den Hackblock mit den schmalen Beinen und der zerfurchten, mit altem Blut verkrusteten Oberfläche. Am Rand steckte ein Hackbeil im weichen Holz. In der Dunkelheit glänzte die flache Klinge wie flüssiges Quecksilber, und darin spiegelte sich Craddock, der hinter Jude auf der Treppe stand. Seine Gesichtszüge waren verschwommen, die Arme in die Luft gereckt, die Handflächen offen, ein evangelikaler Wanderprediger, der vor seinen Schäfchen Zeugnis ablegte.
Bleib stehen, sagte Craddock. Nimm das Beil. Jude konzentrierte sich auf das Pochen in seiner Hand, auf die tiefe Wunde im aufgespießten Muskel, was bewirkte, dass sein Kopf frei wurde und nichts mehr zu ihm vordringen konnte. Wenn Judes Schmerzen so groß waren, dass er den toten Mann nicht mehr hören konnte, dann konnte er ihm auch nicht befehlen. Er stieß sich vom Hackblock ab, drehte sich dabei um die eigene Achse und lief durch die Küche.
Er stieß die Tür zu Dannys Büro auf und stürzte in den dunklen Raum.
19
Nach drei Schritten blieb er stehen, um sich zu orientieren. Die Jalousien waren heruntergelassen, alle Lampen ausgeschaltet. Es war so dunkel, dass er nicht sah, wohin er trat. Mit tastenden Schritten, die Hände nach vorn gestreckt, bewegte er sich langsam weiter. Es war nicht weit bis zur Tür, und dann war er draußen.
Während er langsam in Richtung Tür ging, spürte er eine ängstliche Beklemmung in der Brust. Das Atmen war anstrengender, als ihm lieb war. In jeder Sekunde rechnete er damit, dass er im Dunkeln mit den Händen Craddocks kaltes, totes Gesicht berührte. Er kämpfte gegen die in ihm aufsteigende Panik an. Mit dem Ellbogen stieß er an eine Stehlampe, die krachend umfiel. Sein Herz pochte. Mit stockenden Hühnerschritten bewegte er sich vorwärts, hatte aber nicht das Gefühl, dass er sich seinem Ziel näherte.
Ein rotes Auge, das Auge einer Katze, öffnete sich langsam in der Dunkelheit. Ein kurzer dumpfer Basston, dann tiefes, hohles Brummen: Die Lautsprecher links und rechts von der Stereoanlage standen unter Strom. Beklemmung, ein ekelhaft einschnürendes Gefühl, legte sich Jude ums Herz. Weiteratmen!, sagte er sich. Weitergehen! Er will dich aufhalten. Er will nicht, dass du es nach draußen schaffst. Die Hunde bellten unablässig, heiser, angespannt, ganz nah jetzt.
Die Stereoanlage lief, also musste auch das Radio laufen, aber er hörte
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