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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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nichts. Jude hörte überhaupt kein Geräusch. Er fuhr mit den Fingern die Wand, den Türrahmen entlang, umfasste dann mit der durchbohrtenlinken Hand den Türknauf. Eine imaginäre Nähnadel drehte sich langsam in der Wunde und jagte einen kalten, lodernden Schmerz durch die Hand.
    Jude drehte den Knauf und zog die Tür auf. Die Dunkelheit riss auf, und er schaute in die grellen Suchscheinwerfer des Pick-ups des toten Mannes.
    »Glaubst du etwa, du bist was Besonderes, nur weil du auf so 'ner Scheißgitarre rumklimpern kannst?«, sagte Judes Vater von der anderen Seite des Büros. Die laute, hohl klingende Stimme kam aus der Stereoanlage.
    Im nächsten Augenblick bemerkte Jude, dass aus den Lautsprechern noch andere Geräusche kamen: schweres Atmen, das Scharren von Schuhen, ein dumpfer Schlag, als ob jemand gegen einen Tisch prallte – Geräusche, die sich nach einem stillen, verzweifelten Ringkampf zwischen zwei Männern anhörten. Jude lauschte einem kleinen Hörspiel, einem, das er gut kannte. Im Original war er selbst einer der Akteure gewesen.
    Die Tür schon halb geöffnet, erstarrte Jude, hypnotisiert von den Geräuschen aus den Lautsprechern.
    »Du glaubst wohl, du bist was Bessres als ich, nur weil du Gitarre spielen kannst?« Martin Cowzynski. Sein Tonfall war gleichzeitig belustigt und voller Hass.
    »Komm her.«
    Dann Judes Stimme. Nein, nicht die von Jude, damals war er noch nicht Jude gewesen. Justins Stimme. Eine Stimme, die fast eine Oktave höher war, die manchmal brach, die nicht den vollen Ton hatte, den sie erst nach der vollständig Ausbildung der Stimmbänder bekam. »Mama, hilf mir! Mama!«
    Mama sagte kein Wort, machte kein Geräusch, aber Jude erinnerte sich daran, was sie getan hatte. Sie war vom Küchentisch aufgestanden, war in das Zimmer gegangen, wo sie immer ihre Näharbeiten erledigte, und hatte leise die Tür hinter sich geschlossen, ohne es zu wagen, einen von ihnen beiden anzuschauen. Jude undseine Mutter hatten sich nie gegenseitig geholfen. Wenn es am nötigsten gewesen wäre, hatten sie es nie gewagt.
    »Bist du taub? Beweg deinen Arsch hierher«, sagte Martin zu ihm.
    Das Geräusch, wie jemand auf einen Stuhl gestoßen wird, wie der Stuhl auf den Boden kracht. Als Justin wieder aufschrie, zitterte die Stimme, klang panisch.
    »Nicht die Hand! Nein, Dad, nicht die Hand!«
    »Ich werd's dir zeigen«, sagte sein Vater.
    Dann ein lautes, knallendes Geräusch, als ob eine Tür zugeschlagen würde, und der Justin im Radio schrie wie wild, worauf Jude hinaus in die kalte Nacht stürzte.
    Er verfehlte eine Stufe, stolperte und fiel in dem gefrorenen Matsch der Einfahrt auf die Knie. Er rappelte sich auf, machte zwei schnelle Schritte, stolperte und fiel wieder. Auf allen vieren kauerte er unmittelbar vor der Stoßstange des Pick-ups und schaute auf das brutale Gitter des Bullenfängers mit den Suchscheinwerfern.
    Die Vorderseite eines Hauses oder Autos sah manchmal wie ein Gesicht aus, und so war es auch mit Craddocks Chevy. Die Suchscheinwerfer waren die Augen eines Geistesgestörten, leuchtend, blind, starr. Die Chromstoßstange war ein höhnisch grinsender Silbermund. Jude wartete auf die Attacke, auf durchdrehende Reifen und aufspritzenden Kies. Aber nichts geschah.
    Bon und Angus sprangen am Maschendrahtgitter ihres Zwingers hoch und bellten unaufhörlich – tiefes, heiseres Brüllen, panisch, wütend, die ewige primitive Sprache von Hunden: Siehst du meine Zähne? Zurück, oder du bekommst sie zu spüren, zurück, ich bin brutaler als du. Kurz dachte Jude, dass sie den Pick-up anbellten, aber Angus schaute an ihm vorbei. Jude wandte den Kopf um. Der tote Mann stand in der Tür zu Dannys Büro. Craddocks Geist zog den schwarzen Filzhut und setzte ihn behutsam wieder auf.
    So, mein Sohn, und jetzt kommst du wieder rein, sagte der tote Mann. Jude bemühte sich, die Stimme auszublenden, konzentrierte sich voll und ganz auf den Lärm der geifernden Hunde. Seit ihr Bellen oben im Studio den Bann das erste Mal gebrochen hatte, erschien ihm einzig und allein ausschlaggebend, dass er in ihrer Nähe war. Obwohl er niemandem hätte erklären können, nicht einmal sich selbst, warum das so war. Er wusste nur eines: Wenn er ihre Stimmen hörte, die Stimmen der Hunde, dann erinnerte er sich an die eigene.
    Jude rappelte sich auf, lief ein paar Schritte, fiel hin, stand auf, lief wieder, stolperte über den Randstein der Einfahrt und landete ein weiteres Mal auf den Knien. Er krabbelte durch

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