Blind
das Gras weiter, weil er nicht die Kraft hatte, sich noch einmal in die Höhe zu hieven. Die kalte Luft schnitt ihm in die verletzte Hand.
Während er weiterkroch, schaute er sich um. Craddock kam auf ihn zu. Er ließ die Goldkette aus der Hand gleiten. Die Klinge an ihrem Ende – ein silbern leuchtendes Schwert, das die Nacht durchtrennte – begann hin- und herzuschwingen. Das Blinken und Blitzen faszinierte Jude. Er spürte, wie sein Blick daran haften blieb, spürte, wie ihn die Fähigkeit zu eigenständigem Denken allmählich wieder verließ … und im nächsten Augenblick prallte er scheppernd gegen das Maschendrahtgitter des Zwingers. Er ließ sich auf die Seite fallen, drehte sich auf den Rücken und setzte sich auf.
Er lehnte jetzt mit dem Rücken an der Pendeltür des Zwingers. Angus, dessen nach oben gerollte Augen fast im Kopf verschwanden, sprang von innen gegen die Tür. Bon stand wie erstarrt hinter ihm und bellte mit nicht nachlassender Hartnäckigkeit. Der tote Mann ging auf den Zwinger zu.
Zeit für unsere Reise, sagte der Geist. Zeit, dass wir zusammen auf der Straße der Nacht unterwegs sind.
Jude spürte, wie das Gefühl der Leere zunahm, wie ersich wieder dieser Stimme und der silbernen, im Dunkeln hin- und herschwingenden Klinge auslieferte.
Angus warf sich mit einer solchen Kraft gegen das Maschendrahtgitter, dass er davon zurückprallte und auf die Seite fiel. Die Wucht des Stoßes riss Jude wieder aus der Trance.
Angus.
Angus wollte raus. Er war wieder auf den Beinen, bellte den toten Mann an und kratzte mit den Pfoten an dem Maschendraht.
Jude schoss ein Gedanke durch den Kopf. Wild, bruchstückhaft. Er erinnerte sich an etwas, was er gestern Morgen in einem der Bücher über Okkultismus gelesen hatte. Etwas über Tiergeister. Darüber, wie diese in direkten Kontakt mit den Toten treten konnten.
Der tote Mann stand vor Judes Füßen. In Craddocks hagerem, weißem, starrem Gesicht stand Verachtung. Vor seinen Augen flackerten die schwarzen Flecken.
Du hörst mir jetzt zu. Du hörst jetzt genau auf meine Stimme.
»Ich habe genug gehört«, sagte Jude.
Dann hob er den Arm, packte den Riegel der Zwingertür, riss ihn zurück und warf sich zur Seite.
Eine Sekunde später prallte Angus gegen die Tür. Sie sprang auf, und Angus stürzte sich auf den toten Mann. Er machte dabei ein Geräusch, das Jude noch nie von seinem Hund gehört hatte, ein ersticktes, kieseliges Knurren, das aus der Tiefe des Brustkorbs kam. In der nächsten Sekunde schoss Bon an ihm vorbei. Unter den zurückgezogenen schwarzen Lefzen waren die gefletschten Zähne zu sehen, zwischen denen die Zunge heraushing.
Der tote Mann taumelte mit verwirrtem Gesicht einen Schritt zurück. Was Jude in den folgenden Sekunden sah, konnte er sich nicht auf logische Weise erklären. Angus sprang den alten Mann an – nur dass es Jude sovorkam, als wäre Angus im Moment des Sprungs nicht ein einzelner Hund, sondern zwei. Der erste war der schlanke, kräftig gebaute Deutsche Schäferhund, der er immer gewesen war. Aber dieser Schäferhund war verbunden mit etwas Pechschwarzem in Gestalt eines Hundes, flach, konturlos, aber irgendwie massiv, ein lebender Schatten.
Angus' physischer Körper überlappte diese Schattengestalt. Aber nicht völlig. Die Ränder des Schattenhundes lugten dahinter hervor – vor allem um Angus' Schnauze und aufgerissenes Maul herum. In diesem Moment packte der Schatten-Angus den toten Mann um den Bruchteil einer Sekunde früher als der echte Angus. Er erwischte ihn von der linken Seite, der Seite, die der Hand mit der Goldkette und der pendelnden Silberklinge abgewandt war. Der tote Mann stieß einen erstickten wütenden Schrei aus und wurde herumgeworfen. Er stolperte zurück und schüttelte Angus ab, indem er ihm mit dem Ellbogen auf die Schnauze schlug. Nur dass es nicht Angus war, den er sich vom Leib hielt, sondern der andere schwarze Hund, jener, der wie der Schatten einer Kerzenflamme hin und her flackerte.
Bon stürzte sich von der anderen Seite auf Craddock. Auch Bon war zwei Hunde, auch sie hatte einen zitternden Schattenzwilling. Der alte Mann schlug mit der Goldkette nach ihr, wobei die halbmondförmige Klinge ein zischendes Geräusch machte. Etwa auf Schulterhöhe durchschnitt sie Bons rechtes Vorderbein, ohne eine Spur zu hinterlassen. Doch dann erwischte sie das Bein des mit ihr verbundenen schwarzen Hundes. Die Klinge fuhr in die Schatten-Bon, und für einen Augenblick verschoben sich
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