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Blind

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Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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dass er die Absturzstelle bis auf eine halbe Quadratmeile eingrenzen kann. Diese Einschätzung verdankte er allerdings nichtdem Studium der meteorologischen Daten vom Morgen des Absturzes, der Überprüfung von Hayes' letzten Funksprüchen oder der Lektüre der Augenzeugenberichte. Er ließ vielmehr ein silbernes Pendel über einer überdimensionalen Karte der Region baumeln. Als das Pendel über einem Punkt im südlichen Teil des Big Cypress Swamp schnell hin- und herschwang, verkündete McDermott, dass er das Aufschlaggebiet gefunden habe.
    Wenn er im Lauf der Woche mit einer privaten Suchmannschaft in den Big Cypress Swamp aufbricht, um das abgestürzte Ultraleichtflugzeug zu suchen, wird er keine Sonar- und Metalldetektoren oder Spürhunde mitnehmen. Sein Plan, um den verschwundenen Professor aufzuspüren, ist viel einfacher – aber auch wenig ermutigend. Er will sich direkt an Roy Hayes wenden. Er will den verstorbenen Professor höchstpersönlich auffordern, die Suchmannschaft zu seiner letzten Ruhestätte zu führen.
     
    Der Artikel wandte sich nun der Hintergrundgeschichte zu und schilderte Craddocks erste Kontakte mit dem Okkultismus. Ein paar Zeilen fielen für die bizarreren Einzelheiten seiner Kindheit ab. Der Vater wurde kurz erwähnt: Der Prediger einer Pfingstkirche hatte eine Vorliebe für Schlangenbeschwörung und war verschwunden, als Craddock noch ein Kind war. Der Mutter widmete der Autor einen ganzen Absatz. Zwei Mal war sie mit dem Jungen durchs ganze Land gezogen, nachdem sie ein Phantom gesehen hatte, das sie den »rückwärtsgehenden Mann« nannte – eine Vision, die Unglück verhieß. Nach einer solchen Begegnung mit dem rückwärtsgehenden Mann flüchteten der kleine Craddock und seine Mutter aus einem Wohnblock in Atlanta, der keine drei Wochen später nach einem Kurzschluss bis auf die Grundmauern niederbrannte.
    Sprung ins Jahr 1967, in dem McDermott als Offizier in Vietnam diente und mit der Aufgabe betraut war, gefangen genommene Mitglieder der Führungsschicht der Volksbefreiungsarmee zu verhören. Ihm wurde der Fall eines Nguyen Trung zugewiesen, eines Handlesers, der seine hellseherischen Fähigkeiten angeblich von Ho Chi Minhs Bruder erlernt hatte und verschiedensten höheren Chargen des Vietcong zu Diensten gewesen war. Um seinen Gefangenen zu beruhigen, bat McDermott ihn, ihm seine spirituellen Überzeugungen zu erläutern. Es folgte eine Serie außergewöhnlicher Unterhaltungen über Weissagung, die menschliche Seele und die Toten. Gespräche, die McDermott nach eigener Aussage die Augen für das Übersinnliche geöffnet hätten.
     
    »In Vietnam sind die Geister sehr aktiv«, behauptet McDermott. »Nguyen Trung hat mich gelehrt, sie zu erkennen. Wenn man erst einmal weiß, wie man sie erkennen kann, sieht man sie an jeder Straßenecke. Ihre Augen sind unkenntlich gemacht, und ihre Füße schweben über dem Boden. Da drüben weiß jeder, dass viele der Lebenden die Toten für sich arbeiten lassen. Ein Geist, der glaubt, dass er eine Arbeit zu erledigen hat, wird unsere Welt nie verlassen. Er bleibt, bis die Arbeit erledigt ist.
    Damals kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass wir den Krieg verlieren würden. Ich habe es auf dem Schlachtfeld gesehen. Wenn unsere Jungs starben, sind ihre Seelen wie Dampf aus einem Teekessel aus ihrem Mund entwichen und zum Himmel geschwebt. Wenn ein Vietcong gestorben ist, ist sein Geist geblieben. Die Toten des Vietcong haben sofort weitergekämpft.«
     
    Nach dem Ende der Sitzungen verlor McDermott Trung aus den Augen. Er verschwand um die Zeit der Tet-Offensive.Was Professor Hayes anging, so glaubte McDermott, dass man über sein Schicksal schon bald Bescheid wissen werde.
     
    »Wir finden ihn«, sagte McDermott. »Sein Geist ist im Augenblick ohne Arbeit, aber ich werde ihm etwas zu tun geben. Wir werden zusammen unterwegs sein – Hayes und ich. Er wird mich direkt zu seinem Körper führen.«
     
    Bei den letzten Sätzen – Wir werden zusammen unterwegs sein – spürte Jude, wie ihm ein kaltes Kribbeln über die Arme lief. Aber das war längst nicht so schlimm wie das Grauen, das ihn überkam, als er sich die Fotos anschaute.
    Das erste zeigte Craddock, wie er am Kühlergrill seines rauchblauen Pick-ups lehnte. Seine barfüßigen Stieftöchter – Anna war vielleicht zwölf, Jessica etwa fünfzehn – saßen auf der Haube, links und rechts von ihm. Es war das erste Mal, dass Jude Annas ältere Schwester sah, aber nicht das erste Mal,

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