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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Jude kleidete sie schwarz ein und brachte ihnen das Schreien bei.
    Er wünschte sich, er hätte seinen DAT-Rekorder mitgenommen und könnte aufnehmen, was er bis jetzt hatte. Stattdessen stellte er die Gitarre wieder zur Seite und kritzelte die Akkorde unter dem Titel auf. Dann nahm er die Les Paul und spielte – gespannt, was sich daraus ergeben würde – den Lick immer wieder und wieder. Zwanzig Minuten später zeigten sich erste Blutflecken am Verband an der linken Hand. Aber er hatte den Refrain ausgearbeitet, der sich organisch auf dem ersten Melodiemotiv aufbaute, ein gleichmäßiger, sich steigender, donnernder Refrain, ein Flüstern, das in Gebrüll endete: ein Akt der Gewalt gegen die Schönheit und Süße der Melodie, die er als Erstes gehabt hatte.
    »Von wem ist das?«, fragte Georgia. Sie hatte den Kopf zur Badezimmertür hereingestreckt und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
    »Von mir.«
    »Gefällt mir.«
    »Ist ganz gut. Würde noch besser klingen, wenn ich ein bisschen Saft hätte.«
    Das weiche schwarze Haar, das ihren Kopf umhüllte, sah verwirbelt und luftig aus. Jude fiel auf, wie tief die Ringe unter ihren Augen waren. Sie lächelte ihn verschlafen an. Er lächelte zurück.
    »Jude«, sagte sie in einem Ton, dessen erotische Zartheit kaum zu ertragen war.
    »Ja?«
    »Würde es dir was ausmachen, deinen Arsch hier rauszuschieben? Ich müsste mal pinkeln.«
    Als sie die Tür hinter sich zumachte, warf er den Gitarrenkasten aufs Bett, blieb im Halbdunkel des Zimmers stehen und horchte auf die gedämpften Geräuscheder Welt jenseits der zugezogenen Jalousien: den brummenden Verkehr auf dem Highway, das Knallen einer Autotür, das Dröhnen eines Staubsaugers im Zimmer direkt über ihnen. Ihm ging plötzlich auf, dass der Geist verschwunden war.
    Seit der Anzug in der herzförmigen schwarzen Schachtel ins Haus gekommen war, hatte er gespürt, dass der tote Mann ganz nah um ihn herumstrich. Selbst wenn Jude ihn nicht sehen konnte, war er sich seiner Anwesenheit bewusst, spürte ihn fast wie barometrischen Druck. Die Luft war drückend und elektrisiert wie vor einem Unwetter. Seit Tagen ertrug er diese grässliche Atmosphäre des Wartens, diese kontinuierlich knisternde Spannung, in der er kaum noch schmeckte, was er aß, und kaum noch einschlafen konnte. Das alles war wie weggeblasen. Beim Schreiben des Songs hatte er den Geist irgendwie vergessen – und der Geist hatte ihn vergessen oder war zumindest nicht in der Lage gewesen, in Judes Gedanken, in seine Umgebung einzudringen.
    Er ging mit Angus Gassi und ließ sich dabei Zeit. Er trug ein kurzärmeliges Hemd und Jeans, die Sonne im Nacken fühlte sich gut an. Der Geruch des Morgens die Abgase des Highways, die Sumpflilien im Gebüsch, der heiße Teer – kitzelte seine Lebensgeister, weckte den Wunsch, sich in den Wagen zu setzen und loszufahren, irgendwohin, egal. Er fühlte sich gut: ein ungewohntes Gefühl. Vielleicht war er nur scharf. Er dachte an Georgias liebenswert zerwuscheltes Haar, an ihre vom Schlaf verquollenen Augen, an ihre geschmeidigen weißen Beine. Er hatte Hunger, ihm war nach Eiern und einem Chicken Fried Steak. Angus jagte ein Murmeltier ins hüfthohe Gras, blieb dann am Rand des Wäldchens stehen und kläffte zufrieden. Jude ging zurück, um auch mit Bon eine Runde zu drehen. Als er das Zimmer betrat, hörte er die Dusche rauschen.
    Er ging leise ins dampfige Badezimmer. Die Luft war heiß und stickig. Er zog sich aus, schlüpfte um den Vorhang herum und stieg vorsichtig in die Duschwanne.
    Als er ihr mit den Fingerknöcheln über den Rücken strich, zuckte sie zusammen und schaute sich um. Auf der linken Schulter hatte sie ein schwarzes Schmetterling-Tattoo und auf der Hüfte ein schwarzes Herz. Sie drehte sich zu ihm um, und er legte eine Hand auf das Herz.
    Sie drückte ihren nassen elastischen Körper an ihn. Sie küssten sich. Er bog sie nach hinten, und um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stützte sie sich mit der rechten Hand an der Wand ab. Im gleichen Augenblick atmete sie vor Schmerz scharf und flach ein und zog die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
    Georgia wollte die Hand unauffällig herunternehmen, aber Jude erwischte sie am Handgelenk und hob sie hoch. Der Daumen war entzündet und ganz rot. Als er ihn leicht berührte, spürte er die kranke Hitze, die darin eingeschlossen war. Der Bereich um den Handballen herum war ebenfalls gerötet und angeschwollen. An der Innenseite des Daumens

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