Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
dass er Anna als Kind sah sie sah genauso aus, wie er sie in seinem Traum gesehen hatte, nur ohne die Binde über den Augen.
    Auf dem Foto hatte Jessica die Arme um den Hals ihres linkisch lächelnden Stiefvaters geschlungen. Sie war fast genauso schlaksig wie er, groß und gut in Form, ihre Haut honigfarben und gesund. Ihr Grinsen hatte allerdings etwas Falsches – es war zu breit, fast fletschte sie die Zähne, zu enthusiastisch, das hechelnde Geld Geld Geld-Grinsen eines Immobilienverkäufers. Und auch die Augen hatten etwas Falsches. Sie waren so glänzend und schwarz wie feuchte Tinte und beunruhigend gierig.
    Anna saß etwas abseits von den beiden. Sie war zaundürr, nur Haut und Knochen. Das Haar fiel ihr fast bis auf die Hüften – ein langer goldener Schwall Licht.
    Sie war die Einzige, die für die Kamera kein Lächeln aufsetzte. Sie hatte überhaupt keinen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ihr Gesicht war ausdruckslos, sah aus wie betäubt, die Augen ziellos, wie die einer Schlafwandlerin. Jude erkannte es wieder. So hatte sie ausgesehen, wenn sie in ihre monochromatische, auf den Kopf gestellte Welt der Depression abgetaucht war. Der beängstigende Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass sie den Großteil ihrer Kindheit durch diese Welt gewandert war.
    Am schlimmsten war das zweite, kleinere Foto: Captain Craddock McDermott im Tarnanzug mit schweißfleckigem Anglerhut auf dem Kopf und einem Ml 6 über der Schulter. Er posierte mit anderen GIs. Sie standen auf festgestampftem gelbem Lehmboden, im Hintergrund Palmen und stehendes Gewässer. Es hätte ein Schnappschuss aus den Everglades sein können, wenn da nicht die Soldaten und ihr vietnamesischer Gefangener gewesen wären.
    Der Gefangene stand einen Schritt hinter Craddock, ein kräftig gebauter Mann in schwarzem Gewand, mit rasiertem Schädel, breiten, ansehnlichen Zügen und den gelassenen Augen eines Mönchs. Jude erkannte ihn auf den ersten Blick als den vietnamesischen Gefangenen, dem er in seinem Traum begegnet war. Die fehlenden Finger von Trungs rechter Hand verrieten alles. Auf dem körnigen, blassen Foto waren die Fingerstümpfe mit schwarzem Faden frisch genäht worden.
    In der Bildunterschrift wurde der Mann als Nguyen Trung ausgewiesen und der Schauplatz als ein Feldlazarett in Dong Tarn, wo man Trungs im Kampf erlittene Verwundungen behandelt habe. Das war immerhin halbwegs richtig. Trung hatte sich die eigenen Finger abgehackt, weil er geglaubt hatte, sie würden ihn jeden Augenblick angreifen – es war also eine Art Kampfhandlung gewesen. Was wirklich passiert war, glaubte Jude zu wissen.Trung war, nachdem er Craddock McDermott nichts mehr über Geister und deren Arbeit zu sagen gehabt hatte, auf der Straße der Nacht unterwegs.
    In dem Artikel stand nicht, ob McDermott diesen Roy Hayes, diesen Professor im Ruhestand und Piloten von Ultraleichtflugzeugen, letztlich gefunden hatte. Allerdings nahm Jude an, obwohl es keinen vernünftigen Grund für diese Annahme gab, dass er erfolgreich gewesen war. Um sich zu vergewissern, startete Jude eine weitere Google-Suche. Roy Hayes' sterbliche Überreste waren fünf Wochen später zur letzten Ruhe gebettet worden. Genau genommen hatte Craddock ihn nicht gefunden – nicht persönlich. Das Wasser war zu tief gewesen. Ein Tauchtrupp der Florida State Police hatte ihn aus dem Wasser geholt, und zwar genau an der Stelle, die Craddock ihnen gezeigt hatte.
    Georgia stieß die Badezimmertür auf, und Jude schaltete den Browser aus.
    »Was machst du da?«, fragte sie.
    »Versuche rauszukriegen, wie ich an meine E-Mails komme«, log er. »Willst du nachgucken, ob für dich was da ist?«
    Sie schaute kurz den Computer an, schüttelte dann den Kopf und rümpfte die Nase. »Nein. Keine Lust, nicht die geringste. Komisch, was? Sonst muss man mich immer von der Kiste wegprügeln.«
    »Da siehst du's. Ist gar nicht so übel, wenn man um sein Leben rennen muss. Bildet den Charakter.«
    Er zog die Schublade aus der Frisierkommode und kippte wieder eine Dose Hundefutter hinein.
    »Letzte Nacht hätte ich fast gekotzt von dem Gestank«, sagte Georgia und setzte sich auf die Bettkante. »Und heute Morgen kriege ich Hunger davon, merkwürdig.«
    »Dann los. Ein Stück die Straße runter ist ein Denny's. Kleiner Morgenspaziergang.«
    Er öffnete die Tür und hielt ihr die Hand hin. Sie trug verwaschene schwarze Jeans, schwere schwarze Stiefel und ein ärmelloses schwarzes Top, das lose an ihrem schmächtigen Körper

Weitere Kostenlose Bücher