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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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herunterhing. Im goldenen Licht der Sonne, das durch die Tür fiel, wirkte ihre blasse, zarte Haut fast durchscheinend, so als bekäme sie schon bei der leichtesten Berührung blaue Flecken.
    Jude sah, dass sie die Hunde beobachtete. Angus und Bon beugten sich Kopf an Kopf über die Schublade und schlangen das Fressen in sich hinein. Er sah, wie Georgia die Stirn runzelte, und wusste sofort, was sie dachte. Solange sie sich in der Nähe der Hunde aufhielten, waren sie sicher. Schließlich sah Georgia ihn an, nahm seine Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Es war ein strahlender Tag. Draußen wartete der Morgen auf sie.
    Jude hatte keine Angst. Er fühlte sich noch immer beschützt von seinem neuen Song, spürte, dass er damit einen magischen Kreis um sich und Georgia gezogen hatte, in den der tote Mann nicht eindringen konnte. Er hatte den Geist vertrieben – zumindest für eine gewisse Zeit.
    Während sie den Parkplatz überquerten, wobei sie sich unbekümmert an der Hand hielten, was sie sonst nie taten, schaute er zufällig zurück zu ihrem Motelzimmer. Angus und Bon standen Seite an Seite auf den Hinderbeinen, die Vorderpfoten an der Scheibe des Panoramafensters, und blickten sorgenvoll hinter ihnen her.
    25
    Bei Denny's war es laut und brechend voll, der Geruch von fettem Speck, angebranntem Kaffee und Zigarettenqualm hing schwer in der Luft. Die Theke gleich rechts neben dem Eingang war der gekennzeichnete Raucherbereich. Das hieß, dass man nach fünf Minuten Wartezeit wie ein voller Aschenbecher stank, wenn man schließlich zu seinem Tisch geführt wurde.
    Jude rauchte nicht, hatte nie geraucht. Wenigstens eine selbstzerstörerische Angewohnheit, die er sich hatte verkneifen können. Sein Vater rauchte. Bei Besorgungen in der Stadt hatte Jude ihm immer bereitwillig, ohne dass man ihn darum gebeten hätte, ganze Stangen von diesen billigen No-Name-Zigaretten mitgebracht. Sie wussten beide, warum. Jude starrte wütend über den Küchentisch, wenn sich sein Vater eine Zigarette anzündete und den ersten Zug nahm, wobei die Glut orange aufleuchtete.
    »Wenn Blicke töten könnten, hätte ich schon lange Krebs«, sagte Martin eines Abends unvermittelt zu ihm. Er machte eine fahrige Handbewegung, malte mit der Zigarette einen Kreis in die Luft und blinzelte Jude durch den Rauch an. »Ich bin ein zäher Bursche. Wenn du mich mit diesen Dingern hier umbringen willst, musst du wohl noch ein bisschen warten. Gibt einfachere Methoden, wenn du wirklich willst, dass ich abkratze.«
    Judes Mutter sagte kein Wort. Sie schälte Erbsen mit einem verkniffenen, ganz auf ihre Arbeit konzentrierten Gesichtsausdruck. Sie hätte taubstumm sein können.
    Jude – damals noch Justin – sagte auch nichts, er starrte seinen Vater einfach nur an. Nicht Wut hatte ihm die Sprache verschlagen, sondern der Schock, weil sein Vater seine Gedanken gelesen hatte. Jude hatte die schlaffen Hühnchenfleischfalten von Martin Cowzynskis Hals mit einer Wildheit angestarrt, die ihm den Krebs mit der Kraft seines Willens hineinzwingen wollte, einen Klumpen schwarz wuchernder Zellen, die die Stimme seines Vater zerfressen, seinen Atem ersticken würden. Er wollte das von ganzem Herzen: einen Krebs, bei dem ihm die Ärzte nur noch den Rachen ausschaben könnten, der ihn für immer zum Schweigen bringen würde.
    Der Mann am Nachbartisch hatte die Ausschabung schon hinter sich. Zum Sprechen benutzte er einen elektronischen Kehlkopf, ein laut knackendes komisches Mikro, das er sich unters Kinn hielt, um der Kellnerin (und jedem anderen im Lokal) zu sagen: »HABEN SIE KEI-NE KLIMAANLAGE? SCHON? DANN STELLEN SIE DAS DING DOCH BITTE AN. REICHT'S NICHT, WENN SIE IHR ESSEN KOCHEN, MUSS AUCH NOCH IHRE ZAHLENDE KUNDSCHAFT BRATEN? HERRGOTT NOCH MAL, ICH BIN SIEBENUNDACHTZIG.« Dieser Tatsache maß er eine derart überwältigende Bedeutung bei, dass er sie, nachdem die Kellnerin gegangen war, seiner Gattin, einer fantastisch fetten Frau, die nicht mal den Blick von ihrer Zeitung hob, noch einmal mitteilte: »ICH BIN SIEBENUNDACHTZIG JAHRE ALT. HERRGOTT, BRUTZELN UNS HIER WIE SPIEGELEIER.« Er sah genauso aus wie der alte Mann aus dem Gemälde American Gothic, bis hin zu den grauen Haarsträhnen, die er sich über die kahle Birne gekämmt hatte.
    »Was wir wohl für ein altes Paar abgeben würden?«, sagte Georgia.
    »Tja, jedenfalls hätte ich noch Haare. Weiße eben. Wahrscheinlich würden die in Büscheln überall da rauswachsen, wo sie nicht rauswachsen

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