Blind
erhob und dem Gang zu den Toiletten zuwandte, glitt sein Blick über die Panoramafenster, die nach vorn hinausgingen. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Sein Blick blieb an etwas hängen, das er auf dem Parkplatz sah. Dicht vor dem Eingang stand der Pick-up des alten Mannes. Der Motor lief, die Suchscheinwerfer, kalte weiße Lichtkugeln, waren eingeschaltet. Im Wagen saß niemand.
Ein paar der Gaffer drängten sich um die Tische hinter Jude. Er musste sich zwischen ihnen hindurchzwängen, um in den Gang zu den Toiletten zu gelangen. Jude stürmte durch die Tür mit der Aufschrift FRAUEN.
Georgia stand vor einem der beiden Waschbecken. Sie schaute sich nicht um, als die Tür gegen die Wand knallte. Sie betrachtete sich im Spiegel, allerdings mit ziellosen Augen, die nicht wirklich etwas anschauten. Ihr wehmütiger, ernster Gesichtsausdruck war der eines Kindes, das vor dem Fernseher saß und schon fast eingeschlafen war.
Sie holte mit ihrer verbundenen Faust aus und rammte sie, ohne zurückzuzucken, mit voller Wucht in den Spiegel. Sie pulverisierte ein faustgroßes Stück des Glases. Von dem Loch verliefen Bruchlinien in alle Richtungen, und in der nächsten Sekunde fielen die silbrigen Spiegelspitzen musikalisch klimpernd ins Waschbecken.
Einen Meter entfernt, neben einem von der Wand heruntergeklappten Wickeltisch, stand eine schlanke blonde Frau mit einem Neugeborenen im Arm. Sie presste das Baby an ihre Brust und fing an zu kreischen. »O Gott! O mein Gott/«
Georgia nahm einen zwanzig Zentimeter langen Splitter aus dem Becken, legte den Kopf zurück und drückte die glänzende, halbmondförmige Sichel an ihre Kehle. Jude erwachte aus seiner Schockstarre, packte Georgia am Handgelenk, riss den Arm nach unten und drehte ihn ihr hinter den Rücken, bis sie den Glassplitter mit einem kläglichen Schrei losließ. Die spiegelnde Sichel fiel auf die Fliesen und zersprang mit einem angenehm klirrenden Geräusch.
Jude riss Georgia herum und verdrehte ihr dabei noch einmal den Arm. Vor Schmerz schnappte sie nach Luft und kniff die Augen zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. Widerstandslos ließ sie sich zur Türschieben. Er war sich nicht sicher, warum er ihr wehgetan hatte, ob aus Panik oder mit Absicht: weil er wütend auf sie war, dass sie so durchdrehte, oder weil er wütend auf sich selbst war, dass er es zugelassen hatte.
Der tote Mann wartete im Gang vor der Toilette. Jude nahm ihn erst wahr, als er schon an ihm vorbei war. Dann jedoch befiel ihn ein Zittern, das seinen ganzen Körper erfasste und nicht mehr aufhören wollte. Craddock hatte den Rand seines schwarzen Hutes angetippt, als sie an ihm vorbeigegangen waren.
Georgia konnte sich kaum auf den Beinen halten. Jude packte sie am Oberarm und hielt sie fest, während er sie vor sich ins Lokal schob. Die dicke Frau und der alte Mann hatten die Köpfe zusammengesteckt.
»… DAS WAR KEINE RADIOSTATION …«
»Verrückte, die sich einen üblen Scherz …«
»… SEI STILL, SIE KOMMEN.«
Die anderen Gäste glotzten sie an und machten hastig Platz, um sie durchzulassen. Die Kellnerin, die Jude als Drogendealer und Georgia als seine Hure bezeichnet hatte, stand an der Theke am Eingang und sprach mit dem Geschäftsführer, einem kleinen Mann mit der Hemdbrusttasche voller Stifte und den traurigen Augen eines Bassets. Die Kellnerin zeigte auf sie, während sie den Raum durchquerten.
An ihrem Platz ging Jude etwas langsamer und warf zwei Zwanziger auf den Tisch. Als sie am Geschäftsführer vorbeikamen, hob dieser den Kopf und schaute sie mit seinem Trauerblick an, sagte aber nichts. Währenddessen plapperte die Kellnerin ihm weiter ins Ohr.
»Jude«, sagte Georgia, als sie durch die erste Tür gingen. »Du tust mir weh.«
Er lockerte den Griff um ihren Oberarm und sah, dass seine Finger auf der ohnehin schon blassen Haut wachsweiße Abdrücke hinterlassen hatten. Sie stießen die zweite Tür auf und waren draußen.
»Sind wir in Sicherheit?«, fragte Georgia.
»Nein«, sagte er. »Aber bald. Der Geist hat eine Heidenangst vor unseren Hunden.«
Sie gingen schnell an Craddocks leerem, leise vor sich hinbrummendem Pick-up vorbei. Das Fenster an der Beifahrerseite war etwa ein Drittel heruntergekurbelt. Das Radio lief, ein Mittelwellensender. Einer von diesen rechtslastigen Moderatoren sprach mit glatter, selbstbewusster, fast arroganter Stimme.
»… ist es wunderbar, dass die echten amerikanischen Werte wieder zu ihrem Recht kommen. Und es ist
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